von Niels Kropp

Sonnenaufgang vor einem Gewächshaus. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Wir, zwölf Studierende und drei Lehrende der Universität Osnabrück, sind im Januar 2018 für eine einwöchige Exkursion im Rahmen des Studiengangs Internationale Migration und Interkulturelle Studien nach Almeria geflogen, um die Arbeitsbedingungen von Migrant*innen in der dortigen Landwirtschaft zu untersuchen. Um es vorweg zu sagen, unser Motiv war nicht nur Wissbegierde und wir kamen nicht als ‚neutrale‘ Beobachter*innen. Wir hatten bereits vor unserem Abflug die Erwartung, dass wir dort massiv Ausbeutung und Rassismus begegnen würden, wie medial schon vielfach berichtet wurde. Unser Ziel war es, die Zusammenhänge von industrieller Landwirtschaft und Arbeitsmigration sowie von Ausbeutung dort und unserem Konsum hierzulande besser zu begreifen. Darüber hinaus ging es uns darum, diese Verhältnisse auch für andere zu dokumentieren und damit Kritik zu ermöglichen. Auf diesem Blog wollen wir unsere Erfahrungen teilen. Das werden wir auf den folgenden Seiten tun und dabei doch versuchen, unsere Vorannahmen zu überprüfen, verschiedene Standpunkte zu Wort kommen zu lassen und Ihnen, den Leser*innen, daher nicht nur Erfahrungen, sondern auch Konzepte an die Hand zu geben: Also auf nach Almería!

Als wir am 20. Januar im Süden Spaniens, in Málaga, landen, strahlt der Himmel in wolkenlosem Blau, die Temperaturen sind frühlingshaft und vom Meer her weht ein angenehmer Wind. Bei unserem Abflug in Deutschland war es winterlich grau und nasskalt gewesen – nun sitzen wir im T-Shirt unter Palmen. Mit Mietautos geht es weiter nach Almería, Ziel unserer siebentägigen Exkursion und ein Zentrum der europäischen Gemüseproduktion. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um herauszufinden, weshalb auch im Januar sattgrüne Gurken in unseren Supermärkten zu kaufen sind – und was das mit Migration und sozialen Kämpfen zu tun hat.

Zur Orientierung im Themenfeld soll diese Hinführung drei Fragen umreißen: 1. Warum sollten sich Migrationsforscher*innen genauso wie alle anderen Menschen mit der Gemüseproduktion in Almería auseinandersetzen? 2. Wie ist die Situation in Almeria in groben Zügen und was haben wir während unseres Aufenthalts dort getan? Und 3.: Wie übersetzen wir das in einen Blog? Nachdem wir diese Fragen beantwortet haben, widmet sich ein weiterer, 4. Abschnitt der Reflexion unserer eigenen Rolle im Untersuchungsfeld.

1. Osnabrück in Spanien: Was hat ‚unser‘ Gemüse mit Migration zu tun?

Unsere Geschichte beginnt eigentlich nicht in Malaga und auch nicht in Almería, sondern 14 Monate vorher, Ende 2016, in Osnabrück, am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien. In einem rappelvollen Seminarraum herrscht eine gespannte Stimmung. Gekommen sind Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen aus Süditalien und Südspanien – der Titel der Abendveranstaltung: „Die Schattenseite der roten Tomate – Geflüchtete, Sans Papier, Migrant*innen und der Arbeitskampf: Über die Situation und Perspektiven illegalisierter Erntearbeiter*innen in Südeuropa“. Diese Veranstaltung bringt den Stein ins Rollen. Die Gäste aus Südeuropa berichten von schwierigen bis untragbaren Arbeits- und Lebensbedingungen der meist migrierten Arbeiter*innen auf den Feldern und in den Verpackungshallen der Gemüse- und Obstproduktion. Sie berichten mit Nachdruck von ihren Kämpfen gegen diese Verhältnisse und fordern das Publikum auf, ihren Teil zu diesen Kämpfen beizutragen: Untersucht die Supermarktketten, verbreitet euer Wissen – und kommt uns besuchen! Nach der Veranstaltung entstehen aufgeregte Diskussionen über Proteste vor Supermärkten, ein Seminar Migration in der Landwirtschaft wird angedacht und die Idee einer Exkursion ist geboren.

An den Beiträgen auf diesem Blog lässt sich erkennen, wie vielfältig und komplex die Themen und Fragen sind, die unsere Reise aufgeworfen hat. Der wesentliche Zusammenhang ist dabei Folgender: Im Januar wachsen in Deutschland weder Gurken noch Tomaten. Bananen sowieso nicht. Und Haselnüsse wachsen hier auch weniger als im Nutella sind. Trotzdem gibt es diese „banalen Waren“1 jederzeit in Osnabrück wie in jeder anderen deutschen Stadt – zu erschwinglichen Preisen – zu kaufen, weil sie anderswo kostengünstig produziert werden. Dabei sind die Arbeits- und Transportkosten so niedrig, dass sich diese Produkte hierzulande fast jede*r in gewissem Maße leisten kann. Deutschland gehört zu jenen Staaten mit den relativ zum Lohn niedrigsten Lebensmittelpreisen. Der Hartz IV-Satz bemisst sich unter anderem an den Discounterpreisen für Obst und Gemüse. Daher stellt der Sozialwissenschaftler Dieter Alexander Behr die These auf: Ohne Gemüse aus Almería wäre der Abbau von Sozialstandards zumindest schwerer durchzusetzen gewesen.2

Verpackt für die lange Reise nach Norden. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Eine wachsende „transnationale Verbraucherklasse“ – Behr geht von zwei Milliarden Menschen aus, einschließlich des allergrößten Teils der Gesellschaften des globalen Nordens3 – konsumiert also weitgehend global statt regional und saisonal. Das ist jedoch noch gar nicht so lange Selbstverständlichkeit, sondern beruht auf der enormen Expansion der industriellen Landwirtschaft seit den 1980er-Jahren. Mit dieser ging die Erschaffung neuer Bedürfnisse innerhalb weniger Jahrzehnte einher: Paprika und Erdbeeren im Januar, unter anderen.  Der kapitalistischen Produktionslogik entsprechend brauchen mehr ‚neue‘ Waren auch mehr und neue Absatzmärkte. Das dementsprechende Konsumverhalten kann als Teil einer „ imperialen Lebensweise “ begriffen werden4.

Warum imperial, d.h. herrschaftlich? Dieser Prozess ist eben nicht nur ein harmlos-kultureller und die zunehmende Industrialisierung sowie Internationalisierung der Landwirtschaft ist eben nicht nur ein technischer Vorgang. Es handelt sich um eine politisch wie wirtschaftlich bewusst vorangetriebene Entwicklung mit sozialen und ökologischen Voraussetzungen und Folgen, die auf globaler Ungleichheit, massiven Ausbeutungsverhältnissen und ungleichen Migrationsregimen beruht.

In El Puche. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Eine soziale Voraussetzung ist die Existenz einer extrem prekären Arbeiter*innenschaft. In Almería wie andernorts sind dies hauptsächlich Migrant*innen, die sich aufgrund ihrer materiellen Not und ihres unsicheren Aufenthaltsstatus gezwungen sehen, ihre Arbeitskraft billig zu verkaufen. Gezwungen deshalb, weil viele von ihnen in ihren Herkunftsregionen zuvor selbst Lebensmittel produziert haben. Sie betrieben also (Teil-)Subsistenz, die dann durch vom Klimawandel verursachte Umweltschäden, Konkurrenz durch subventionierte Billiglebensmittel, neoliberale Wirtschaftsreformen usw. zerstört wurde. So werden die ehemaligen Kleinbäuer*innen frei für den Arbeitsmarkt und zugleich zu potentiellen Konsument*innen, die Waren teuer einkaufen, die sie zum Teil selbst produzieren.5 Das Modell Almería funktioniert ohne migrantische Arbeit nicht. Deshalb ist Europa an dieser Stelle auch keine ‚Festung‘, sondern ein hochselektives Sieb. Migration wird zum Teil bewusst zugelassen, ja sogar durch Anwerbeverträge gefördert. Den Migrant*innen bleiben in Spanien zentrale Rechte verwehrt. Sie werden über restriktive Aufenthaltsbestimmungen kontrolliert und im Zweifel schnell wieder abgeschoben. Sie sind das schwächste Glied in einer Kette, in der auch die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe unter dem Preisdruck der großen Abnehmer, der Supermarktketten, stehen.

Diesen hier nur stichpunktartig aufgeworfenen Zusammenhänge wollen wir in diesem Blog nachgehen. Es lässt sich festhalten: Das Leben in Osnabrück, wie wir es heute führen, ist ohne das Leben, das andere in Almería und anderswo führen, so nicht denkbar – und andersherum. Migration ist ein Kernelement dieses Zusammenhangs. Das Problem ist, dass die Waren im Supermarkt stumm sind und diese Geschichte nicht erzählen. Deshalb wollen wir hier für sie sprechen. Der Beitrag einer kritischen Wissenschaft zu so einer Erzählung besteht unser Ansicht nach darin, einen ganzheitlichen Blick auf die untersuchten Zusammenhänge mit theoretischen Erklärungsansätzen zu verknüpfen und damit „Strukturwissen für emanzipatorische Kämpfe“6 zu liefern

2. Zwischen Strand und Gewächshaus: Eine Woche auf Exkursion in Almería

Almería ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Süden Spaniens, in der Region Andalusien. Ein Evergreen in Berichten über die Region ist der Verweis, man könne das ‚Plastikmeer‘, eine der größten Konzentrationen von Gewächshäusern weltweit, schon aus dem Weltraum erkennen. Bei unserer Fahrt von Málaga nach Almería tauchen schnell erste Gewächshäuser im Blickfeld auf. Immer wieder wird das Bild jedoch zunächst unterbrochen, führt die Autobahn direkt an die Küste, linker Hand steile Felsen. Dann erst erscheint kurz vor El Ejido plötzlich das wirkliche mar del plástico: rund 40.000 ha oder 400 km² 7 Intensivkulturen unter Plastik, eine riesige, flache Ausbuchtung im ansonsten schnell in Gebirge übergehenden Küstenstreifen.

Kartendaten © 2018 Google,Inst. Geogr. Nacional. Quelle: https://www.google.com/maps/@36.8143432,-2.7134731,38631m/data=!3m1!1e3
Google-Maps-Satelilltenbild: Das Plastikmeer, rechts die Stadt Almería
Kartendaten © 2018 Google,Inst. Geogr. Nacional. Quelle hier.

Auf dem Weg von Málaga nach Almería. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Ermöglicht wird diese Konzentration von den besonderen klimatischen Bedingungen der Region, warme Sommer, milde Winter und viele Sonnenstunden. Gleichzeitig ist es sehr trocken, weshalb die Wasserversorgung schon heute und in Zukunft verstärkt zu Konflikten führt. Dennoch ist das Modell Almería keine logische Konsequenz äußerer Umstände. Behr zitiert den Schriftsteller Juan Goytisolo. Dieser schrieb 1962:

Almería ist keine spanische Provinz. Almería ist eine spanische Besitzung, die von der Guardia Civil besetzt ist. Jahrhundert auf Jahrhundert hat die Nachlässigkeit der aufeinanderfolgenden Regierungen die ursprünglichen Quellen ihres Reichtums zerstört und hat sie auf ihre gegenwärtige Lage einer Kolonie reduziert. Der in seiner Heimat versklavte Almerienser wandert aus und wird in den Industriegebieten Spaniens ausgebeutet. Die wirtschaftliche Benachteiligung verfolgt ihn überall, wo immer er seinen Lebensunterhalt verdienen will.“

Behr 2013: 17, 122

Die Region Almería war bis in die 1980er Jahre eine klassische Auswanderungsregion. Noch unter Franco wurden dann über ein Ansiedlungsprogramm Bauern in die Region gelockt – weshalb es heute wenige große Besitzungen und vor allem tausende kleine Familienbetriebe gibt. Seit den 1980er-Jahren wurde die Infrastruktur dann nach und nach auf Intensivbewirtschaftung umgestellt und der Arbeitskräftebedarf nahm zu.8

Seither wächst die Region demographisch und wirtschaftlich – und die Gewächshausflächen wachsen auch. Jährlich werden mehrere Millionen Tonnen Tomaten, Gurken usw. produziert (2008: 3 Mio. t9) und Umsätze in Milliardenhöhe erwirtschaftet. Der spanische Gemüsemarkt wird weitgehend aus Almería versorgt, allerdings sind die Exporterlöse um ein Mehrfaches größer. Schätzungsweise wenigstens 80.000 Menschen, in der großen Mehrzahl migrantische Arbeitskräfte, arbeiten vor Ort in der Produktion. 10 Dabei waren seit den 1980er-Jahren auch viele Spanier*innen in die Region migriert. Diese stiegen jedoch zum größten Teil mit der Zeit auf, sodass es zu einer klassischen Unterschichtung kam: Neuzugewanderte übernahmen immer öfter die härtesten, prekärsten und schlechtbezahltesten Jobs. Die mit Abstand größte Gruppe stellen Marokkaner*innen dar, aber auch aus anderen Ländern Nord- und Westafrikas, Osteuropas und Lateinamerikas hat es viele Menschen nach Südspanien verschlagen.11 Die Tätigkeiten sind stark vergeschlechtlicht und mit  Stereotypen aufgeladen: Auf den Feldern arbeiten hauptsächlich Männer, in der Weiterverarbeitung, vor allem Verpackung, viel mehr Frauen.

Wer nach Almería kommt, merkt schnell, dass es um noch viel mehr als um schlechte Arbeitsbedingungen geht: Es geht auch um Zugang zu sozialen Dienstleistungen, um einen hochgradig rassistisch-segregierten Wohnungsmarkt, um die Erwartungen der Familien in den Herkunftsländern und das lokale gesellschaftliche Klima. Ein nachwirkender Schlüsselmoment sind hier die tagelangen rassistischen Ausschreitungen in El Ejido im Jahre 2000.

Vorne: Der Ferienort Roquetas de Mar mit seinen Hotels und Golfplätzen; dahinter: ein staubiges Labyrinth aus Gewächshäusern; im Hintergrund: die schneebedeckten Gipfel der Sierra de Gádor.
Vorne: Der Ferienort Roquetas de Mar mit seinen Hotels und Golfplätzen; dahinter: ein staubiges Labyrinth aus Gewächshäusern; im Hintergrund: die schneebedeckten Gipfel der Sierra de Gádor. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

In diesem komplexen Feld eine Orientierung zu finden, ist innerhalb einer Woche alles andere als einfach – unser Exkursionsprogramm war daher eine Mischung aus intensiven Gesprächen, Beobachtungen und Ruhephasen, in denen sich Eindrücke setzen konnten. Nicht alle unsere Termine werden auf diesem Blog repräsentiert sein, aber alle lieferten spannende Impulse. Durch die Abendveranstaltung in Osnabrück waren unsere ersten Ansprechpartner*innen die Aktivist*innen der SOC-SAT, einer kleinen, dem eigenen Anspruch nach partizipativen und kämpferischen Gewerkschaft vor Ort. Mit ihnen und über sie ergaben sich eine ganze Reihe von weiteren Terminen: Einerseits Gespräche über Gewerkschaftsarbeit und die Bedingungen vor Ort, andererseits Beobachtungen im Feld (in diesem Fall häufig sogar im wörtlichen Sinn), frühmorgens bei Treffpunkten für Tagelöhner*innen und Arbeitgebende oder auf einer besetzten Finca im Inland, auf der Alternativen zum Modell Almería sichtbar wurden. 12

Wir haben uns vor allem für die Perspektive ‚von unten‘, den Blick zivilgesellschaftlicher Akteur*innen und insbesondere der Migrant*innen selbst interessiert, um aus ihrer Sicht das Leben und Arbeiten vor Ort und damit die Beharrungskräfte des gegenwärtigen Systems und dessen Risse und Widersprüche zu verstehen. Wir müssen uns allerdings fragen, ob wir durch unsere Kontakte nicht doch sehr viel mit organisierten und institutionalisierten Akteur*innen gesprochen haben, während wir zu anderen keinen Zugang hatten. Außerdem ist uns klar, dass wichtige Puzzlestücke noch fehlen: Gespräche mit staatlichen Stellen, Aufsichtsbehörden, den großen Supermarktketten, um nur einige zu nennen. Diese Unvollständigkeiten möchten wir mitdenken. Wir bekennen uns zu ihnen, aber auch zu unserem Ansatz eine andere Geschichte als die großer Märkte, anonymer Konzerne und ‚alternativloser‘ wirtschaftlicher Strukturen zu erzählen.

3. Erste Annäherungen: Zu den Beiträgen auf diesem Blog

Dieser Blog ist in vier Abschnitte mit je mehreren Einzeleinträgen aufgeteilt. Sie vertiefen einige hier nur angedeutete Aspekte und fügen noch weitere hinzu. Die Einträge sind Kompromisse zwischen den individuellen Interessen und Stilen der Autor*innen und unserem Wunsch nach einer gewissen Einheitlichkeit und dem Anspruch eines gemeinsamen Projekts. Wir hoffen, dass die Texte sich mit der Zeit weiterentwickeln und ganz verschiedene Leserschaften erreichen: Schüler*innen und Akteur*innen der politischen Bildung, Studierende und Wissenschaftler*innen, Gewerkschafter*innen und Aktivist*innen, Bioladenbesitzer*innen und Landwirt*innen – und Konsument*innen.

Eine ganze Reihe von Beiträgen befasst sich mit Arbeitsbedingungen, Produktionsketten und Strukturen auf dem Lebensmittelmarkt (Abschnitt 2). Dabei geben wir zum einen Einblick in die verschiedenen Absatzmöglichkeiten über Kooperativen oder Auktionshallen. Zum anderen behandeln zwei Beiträge die dominierende Position von Supermarktketten und Discountern. Dabei betrachten wir sowohl aus historischer Sicht deren Aufstieg als auch am Beispiel der REWE-Group ihre aktuelle Rolle. Schließlich geht es um Migration. In einem direkten Vergleich der südspanischen Obst- und Gemüse und der nordwestdeutschen Fleischindustrie fragen wir, warum denn gerade in diesen Sektoren so viele Migrant*innen arbeiten und wie Migration hier organisiert und verwaltet wird.

Drei Beiträge sind der Rolle von Gewerkschaften gewidmet. Dabei geben wir einen Überblick über die spanische Gewerkschaftslandschaft und ihre Geschichte. Wir stellen die Arbeit der beiden größten Gewerkschaften derjenigen der SOC-SAT gegenüber und schlagen vor, diese als Versuch des Social Movement Unionsm zu fassen. Dieser Ansatz strebt eine Verbindung von Arbeitskämpfen mit anderen sozialen Kämpfen an. Zugleich versuchen wir die Rolle der SOC-SAT in Almería zu verstehen. Zudem stellen wir den Tarifvertrag für diesen Sektor (Convenio) vor, erklären, wie dieser zustande kommt und weshalb es in der Praxis immer wieder zu erheblichen Verletzungen des Vertrages kommt.

In einem dritten Abschnitt greifen wir über die Themen Arbeit und Landwirtschaft im engeren Sinne hinaus. Wir beschäftigen uns noch einmal fokussiert mit einigen der wichtigsten sozialen Phänomene und Strukturen, die auch die südandalusische Gesellschaft prägen. Wir beleuchten noch einmal genauer, „wie Rassismus die Profitrate erhöht“ indem er die Ausbeutung einer Arbeiter*innenunterschicht (zusätzlich) legitimiert. Außerdem nehmen wir patriarchale Strukturen und den Widerstand gegen diese, also die spezifische Situation migrantischer Frauen, in den Blick – denn auch in Almería  sind viele Tätigkeiten stark vergeschlechtlicht. Wir stoßen dabei weltweit auf die ‚Feminisierung‘ von Migration und Kämpfe gegen die hiermit einhergehenden Ausbeutungsverhältnisse. Ein weiterer, wichtiger Mechanismus von Marginalisierung und Exklusion sind die vielfach höchstprekären Wohnverhältnisse, die sich nach 2008 noch verschärft haben. An dieser Stelle reflektieren wir auch unsere Besuche in El Puche, einem Stadtteil am Rande Almerías. Außerdem illustriert ein kurzer ethnographischer Bericht noch einmal unsere Überlegungen zu unserem Auftreten vor Ort.

Im letzten Abschnitt thematisieren wir unsere eigene Rolle und beschreiben abschließend Alternativen zum Status quo. Ein weiterer kürzerer Beitrag diskutiert kritisch die Bedeutung von ‚kritischem Konsum‘, also dem bewussten Einkaufen nach sozial-ökologischen Maßstäben. Dann wenden wir uns Lebensmittelzertifizierungen zu. Wir fragen, was diese theoretisch und praktisch bewirken können und sollen: Sind sie ein Instrument zur Regulierung? Dazu haben wir auch ein Hintergrundinterview aus Sicht der Entwicklungszusammenarbeit mit einer Mitarbeiterin der GIZ geführt. Braucht es nicht mehr fairen Handel auch innerhalb Europas? Zu guter Letzt versuchen wir noch einmal unsere Erfahrungen zu bündeln und zu resümieren und zeigen, dass ein anderes Wirtschaften, ein anderes Verhältnis zu Migration und Arbeit, möglich und von vielen Menschen auch gewünscht ist. Wir stellen theoretische Entwürfe wie Postwachstumsökonomie und praktische Projekte wie die Gewerkschaftsarbeit der SOC-SAT noch einmal in einen Zusammenhang und plädieren dafür, sie nicht leichtfertig als widersprüchlich zu verstehen. Zu guter Letzt beschreiben wir in einem Epilog unseren Besuch auf dem ‚Cerro Libertad’, einer besetzten Olivenöl-Finca.

Darüber hinaus verweisen wir im Text immer wieder auf externe Artikel und Videos – zum Teil auf Englisch und Spanisch – sowie die weiteren Beiträge auf diesem Blog, die weitere Vertiefungen ermöglichen. Zu guter Letzt vermittelt eine Bildergalerie noch weitere Eindrücke unseres Aufenthalts.

4. Voyeurismus, Wissenschaft und Emanzipation: Zum Selbstverständnis unserer Gruppe

Wie und als wer treten wir in Almería auf? Welche Rolle nehmen wir ein? Wie stellen wir uns konkret vor? Was bedeuten 15 Angehörige einer deutschen Universität mit ihren neugierigen Blicken in Almería? Diese Fragen haben sich wie ein roter Faden durch unseren Arbeitsprozess gezogen: von der Vorbereitung über die Exkursion selbst bis zur Auswertung. Die letzte Frage ist leicht zu beantworten: In der Regel haben wir uns als Angehörige einer deutschen Universität, die sich für Arbeit, Migration und Landwirtschaft interessieren, vorgestellt. Gleichwohl haben wir bei der SOC-SAT den Aspekt der Arbeit und beim Produzent*innenverband den Aspekt Landwirtschaft betont. Bei einigen flüchtigen Begegnungen mit Arbeiter*innen im Feld haben wir auch einmal auf lange Ausführungen verzichtet, um ein spontanes Gespräch zu ermöglichen.

Dennoch tun wir uns schwer damit, uns ausschließlich als Forschende zu identifizieren. Immerhin war unser Vorgehen kein streng methodisches. Unsere Eindrücke vor Ort  beleuchten exemplarisch Themen, erbringen aber keine ‚Beweise‘ oder Verallgemeinerungen. Es ist ein Einstieg ins Feld. Von manchen Akteur*innen vor Ort mögen wir stärker als Unterstützer*innen oder Aktivist*innen wahrgenommen worden sein. Wir haben uns meist bemüht, nicht zu sehr in diese Rolle gedrängt zu werden, aber auch dieses Selbstverständnis gibt es in unserer Gruppe. Das Schwierige dabei ist ja nicht nur, dass wir etwaige Erwartungen oft nicht erfüllen konnten, sondern auch das Bewusstsein, dass sie an uns als handlungsmächtige und in gewisser Weise imperiale Akteur*innen herangetragen werden. Auch hier bleibt uns nichts übrig als diese Ambivalenz zu reflektieren und abzuwägen, wie wir emanzipatorische Kämpfe tatsächlich am besten unterstützen.

Schließlich haben wir auch diskutiert, ob wir teilweise eigentlich nur ‚Besucher*innen‘, ja Tourist*innen gewesen sind. Der Begriff Besucher*in hat einen gewissen Charme, weil er uns nicht so sehr in den Mittelpunkt rückt und wir in manchen Momenten auch nicht mehr waren als stumme, ratlose Beobachter*innen. Gleichzeitig würde der Begriff unseren institutionellen Hintergrund und unsere nicht so ‚harmlosen‘ Absichten verschleiern. Schließlich waren wir sicher auch Tourist*innen – die am Strand spazieren gehen und abends Tapas essen. Wenn wir aber im Feld das Gefühl hatten, wir könnten als solche wahrgenommen werden, war uns das unangenehm, denn es schien uns ein Missverständnis zu sein. Das war zumeist dann der Fall, wenn wir anonym im öffentlichen Raum unterwegs waren und uns nicht erklären konnten, z.B. als wir direkt am ersten Tag spontan in den marginalisierten Stadtteil El Puche fuhren. Wir bemühten uns, die offenen Feuer auf der Straße, die ärmlichen Behausungen (Chabolas) und die Menschen vor den Autos mit eingeschlagenen Scheiben nicht anzustarren und zugleich nicht wegzusehen. Unauffällig zu sein, war mit einer Gruppe von 15 Personen keine Option. Wirklich dokumentarisch zu fotografieren war auch keine Option, gar nicht zu fotografieren fühlte sich aber ebenfalls falsch an. Wir haben dann – wie im weiteren Verlauf der Exkursion auch – eine Zwischenlösung gefunden.

Bei der Abfahrt aus El Puche: Chabolas am Straßenrand. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Wir sind nach Almeria geflogen – und haben unsere verschiedenen Rollen, unsere Hintergründe und individuellen Eigenschaften mitgebracht. Ich schlage vor, dass wir uns im Folgenden so situativ auf sie beziehen, wie sie während der Exkursion relevant geworden sind. Oder wir einigen uns auf einen langen Kompromiss: Kritische Studierende und Forschende auf Besuch.

Und nun wünschen wir viel Spaß auf unserem Blog. Anregungen und Kritik sind höchst erwünscht – es wäre toll, falls sich der Blog weiterentwickelt (Erweiterungen, Übersetzungen, Übertragungen in einfache(re) Sprache, Materialien). Nehmen Sie mit uns Kontakt auf.

Literatur

Behr, Alexander (2013): Landwirtschaft – Migration – Supermärkte. Ausbeutung und Widerstand entlang der Wertschöpfungskette von Obst und Gemüse. Universität Wien [Online verfügbar hier, zuletzt geprüft am 15.01.2019].

Cabrera, Ana / Uclés, David / Agüera, Tomás (2015): Anlisis de la campaña hortofrutícola de Almería. Hg. v. Fundacíon Cajamar. Cajamar Caja Rura (Campaña 2014/2015) [Online verfügbar hier, zuletzt geprüft am 15.01.2019].

Fußnoten

  1. Behr 2013: 4.
  2. Behr 2013: 69f.
  3. Behr 2013: 63.
  4. Behr 2013: 63.
  5. Behr 2013: 91ff.
  6. Behr 2013:7.
  7. Die Zahlen sind hier nicht ganz einheitlich. Zum Teil ist etwa von 350 km² die Rede.
  8. Behr 2013: 123ff.
  9. Behr 2013: 124.
  10. Siehe Behr 2013: 17. Wobei die Zahlen über Arbeitnehmer*innen, u.a. aufgrund der großen Zahl illegalisierter Arbeiter*innen ungenau sind. Nach Cabrera et al. (2015: 33) arbeiteten 2014 sozialversicherungspflichtig 53.640 Menschen in Almerías Landwirtschaft, von denen 33.800 (63 %) Nicht-Spanier*innen waren. Laut der ARTE Reportage „Spanien: Im Treibhaus schuften” von 2017 arbeiten auf den mindestens 35.000 Hektar Gewächshausfläche ca. 70.‒80.000 Menschen, von denen ungefähr 40.000 Menschen in einem illegalen Beschäftigungsverhältnis sind.
  11. Behr 2013: 150f.
  12. Darüber hinaus hatten wir eigenständig Gesprächstermine vereinbart, zum Beispiel mit der COAG, einem Verband kleinbäuerlicher Betriebe, mit ACOGE, einem Verein für Migrationsarbeit, mit dem Lokalbüro des Roten Kreuzes oder mit dem Migrationsforschungsinstitut der Uni Almería.