Von Laura Dederichs und Leonie Jantzer

Es ist unmöglich mit einer Gruppe von fünfzehn Personen, die in Almería nicht heimisch sind und überwiegend kein Spanisch sprechen, nicht aufzufallen. Besonders deutlich wurde diese Tatsache während unserer beiden Besuche des migrantischen Stadtviertels El Puche. Wir fühlten uns häufig als Teil einer neugierigen Reisegruppe, die bald wieder weg sein würde. Obwohl wir versuchten uns vorsichtig und unaufdringlich zu verhalten, hatten wir immer wieder den Eindruck, zu sehr in das Leben von uns Unbekannten einzudringen.

Selbstorganisierte Nachbarschaft

An einem  Abend fahren wir in Richtung des Viertels El Puche, um eine Nachbarschaftsversammlung zu besuchen, von der uns während des Besuches bei der SOC-SAT am Vortag erzählt wurde. Wir erhoffen uns, mehr über die Lebensbedingungen in dem von Seiten der Stadtverwaltung marginalisierten Viertel zu erfahren. Zudem sind wir an den aktuellen Herausforderungen der Bewohner*innen interessiert und wollen die vereinzelten Informationen und Eindrücke, die wir bisher über den Ort gewinnen konnten, besser einordnen lernen. Am östlichen Rand Almerías gelegen, bietet das Viertel El Puche vielen in der Landwirtschaft und den Verpackungsfirmen beschäftigten Menschen ein Zuhause. Unmittelbar nach einer Schnellstraße und einem Kreisverkehr zeugen bunt bemalte Wände, aber auch (teilweise brennender) Müll und immer wieder provisorische Wohneinheiten von der Ankunft im barrio (Viertel). Schließlich finden wir die sich bereits auflösende Versammlung, welche sich vom Sportplatz des ehemaligen Gemeindezentrums auf die Straße davor verlagert.

Ständig kommen und gehen Leute, erzählen und unterhalten sich mal mehr, mal weniger aufgeregt in größeren und kleineren Gruppen. Sie empören sich über steigende Mieten, die ständigen Besuche der Polizei und die mangelnde Präsenz städtischer Straßenreinigung. Seit einigen Jahren schon kommt die Müllabfuhr nicht mehr nach El Puche, weshalb herumliegender Müll, kaputte Autos und Schrott zum alltäglichen Problem werden. Immer wieder organisieren zwei Familien der Nachbarschaft gemeinsame Müllsammelaktionen, um ihren Wohnraum nicht völlig verkommen zu lassen. Andere wollen die Stadt auf diese Weise nicht aus der Verantwortung lassen. Allerdings haben viele der dort wohnenden Menschen aufgrund ihres illegalisierten Status kein Wahlrecht und sind somit zusammen mit ihren Anliegen irrelevant für die Lokalpolitik.

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Im Gespräch mit verägerten Bewohner*innen El Puches.
Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Unmittelbar nach unserer Ankunft und einer knappen Vorstellung unserer Gruppe werden wir in diverse Gespräche involviert. Diese Situation, mit so vielen Leuten aufzutreten, nur zuzuhören, nicht viel verstehen zu können und somit leider auch keine wirkliche Konversation aufbauen zu können, ist immer wieder herausfordernd.

Einige aus unserer Gruppe hören einer älteren Frau zu, die aufgeregt über die Wohnbedingungen in El Puche, den seit vielen Jahren unklaren Besitzverhältnissen einst gekaufter Wohnungen und die immer wieder stattfindenden Zwangsräumungen durch die Polizei berichtet. Zwangsräumungen sind in Spanien seit 2007 keine Seltenheit. Ausgelöst durch das Platzen der Immobilienblase vergaben die Banken kaum noch Kredite, zahlreiche Menschen wurden arbeitslos und waren nicht mehr in der Lage, ihre 40 Jahre laufenden Kredite, die sie für eine Immobilie aufgenommen hatten, zurückzuzahlen.1 Zudem wirkte sich auch die globale Finanzkrise, also das Platzen der Kreditblase zunächst in den Vereinigten Staaten, auf den Wohnungsmarkt und das (Wirtschafts-)Leben in  Spanien aus. So waren hunderttausende Haushalte überschuldet und der Wert ihrer Immobilie war so gesunken, dass sie auch damit nicht mehr ausreichend Gewinn machen konnten. Schließlich waren sie nicht mehr in der Lage, ihre Kredite zurückzuzahlen. Deshalb wurden in den Jahren 2007 bis 2014, 604.489 Zwangsräumungen angeordnet.2 Ausschlaggebend für diese enorme Schädigung der spanischen Wirtschaft und der einzelnen Bewohner*innen waren die unzähligen Kredite, die in den Jahren 1999 bis 2008 an Spanier*innen und Migrant*innen vergeben wurde. Folglich war der boomende Immobilienmarkt einer der Hauptmotoren des Wirtschaftswachstums in Spanien zu Beginn der 2000er.3 

Wohnraum in der Not und als Profit

Wie uns mitgeteilt wird, investierten viele Bewohnerinnen des Viertels El Puche vor der Krise in Häuser und Wohnungen, da diese damals erschwinglich waren und das eigene Heim eine durchaus attraktive Vorstellung darstellte. Zudem förderten spanische Banken zu Zeiten des ‚Immobilienbooms’ auch Migrant*innen aus dem Globalen Süden, Hypotheken für Immobilien aufzunehmen.4 Um sich Häuser leisten zu können, zogen sie in ärmere Gebiete der Städte.5 Zudem stellt die Investition in und der Besitz von Wohnraum für mittelständige Spanier*innen, aufgrund des nicht ausreichend ausgebauten Sozialsystems in Spanien, eine willkommene finanzielle und soziale Absicherung im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder niedriger Rente dar.6

Diejenigen, die den Wohnraum verkauften, waren oft jedoch dubiose Immobilienfirmen und Privatleute, berichteten uns die Bewohner*innen des Viertels. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass der Wohnraum weder diesen Firmen noch den Privatpersonen gehörte. Der Vorstand der Agentur für Wohnungsbau und Rehabilitation von Andalusien (AVRA), zuvor als Landesgesellschaft für Landbesitz in Andalusien (EPSA) in Besitz dieser Häuser, behauptet, dass sowohl die Käufer*innen als auch die Verkäufer*innen von der Illegalität des Geschäfts gewusst hätten.7 Ihrer Meinung nach wären beide Parteien darüber informiert gewesen, dass es sich hierbei um öffentliche Wohnungen handelte, die nicht einzeln hätten gekauft oder verkauft werden können.8 Die Bewohner*innen zweifeln an der Richtigkeit der Behauptungen von AVRA, dass es sich um öffentlich geförderte Immobilien handelt.9
Viele Jahre hatten sich involvierte Wohnungsbaugesellschaften u.a. AVRA nicht um ihre Objekte gekümmert, weshalb niemand mehr wusste, wer der Besitzer oder die Besitzerin war. Doch mit dem Einsetzen der Krise und ihren Auswirkungen forderten einige Akteure, besonders AVRA, ihre Ansprüche ein. Sicherlich waren sie nun auch mit enormen finanziellen Rückschlägen konfrontiert und kamen in Schwierigkeiten, ihre aufgenommenen Kredite zurückzuzahlen.

Sie zwangen die seit langer Zeit in Wohnungen und Häusern lebenden Menschen zu Mietzahlungen oder dem Auszug und ließen anschließend den Großteil des Raumes leer stehen.10 Der Präsident des Nachbarschaftsvereins berichtet von EPSA (heute AVRA) im Jahr 2007 informiert worden zu sein, dass diese Häuser in öffentlichem Besitz seien und daher der Junta de Andalucía gehörten. Seine Aufgabe war es, die Menschen, die die entsprechende Wohnung bereits vor vielen Jahren erworben hatten, nun einen jährlichen Mietvertrag unterzeichnen zu lassen. Für eine ‚soziale Miete‘ von 25 Euro im Monat – mittlerweile ist diese teilweise auf 60 Euro gestiegen – könnten sie so weiterhin in der Wohnung leben. Diese Praxis führte auch AVRA nach ihrer Übernahme weiter: die Mieter*innen zahlen jeden Monat, zusammen mit der Höhe der jeweiligen Mietvariable, zwischen acht und zehn Euro Grundsteuer plus fünf Euro städtische Abfallsteuer für die Müllsammlung – ein Service, der laut den Bewohnerinnen nie stattfindet.11 Andere Bewohner*innen weigerten sich, diese Mietverträge zu unterschreiben, weshalb sie mit einer Zwangsräumung konfrontiert waren. Mehrere Studien zeigen, dass Zwangsräumungen auf benachteiligte Stadtviertel konzentriert sind und eine Marginalisierung dieser Viertel sowie zunehmende Ungleichheit in Städten geschaffen werde.12 In Reaktion auf die leerstehenden Räume wurden einige Gebäude besetzt und aufgrund des Mangels an alternativen Wohnraum von Saisonarbeiter*innen teils illegal bewohnt.

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Ein Blick auf die teils heruntergekommenen Wohnhäuser in El Puche.
Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Ein Blick in die Garagenwohnungen’

In den einzelnen Gesprächskreisen vor dem ehemaligen Gemeindezentrums, das jetzt in den Händen eines einflussreichen Immobilienbesitzers verschlossen brach liegt, werden derweil verschiedene Themen angesprochen. So erzählt eine Gruppe von Frauen von den Verwicklungen städtischer und privater Akteure im Stadtrat, die teilweise mafiöse Strukturen annehmen. Diese Strukturen prägen die Lebensbedingungen in El Puche und liegen nicht immer im Interesse der Bewohner*innen des Viertels.  Neben dem wird auch von der schwierigen Situation der in ‚Garagenwohnungen‘ lebenden Menschen berichtet. Aufgrund von knappem Raum wurden leerstehende Garagen im sogenannten ‚Tunnel‘ zunächst provisorisch bezogen, sind jedoch mittlerweile seit mehreren Jahren bewohnt. Die Nachbar*innen behaupten, dass einer der AVRA-Mitarbeiter, der zuvor in El Puche gelebt habe, mehrere dieser Garagen als Wohnhäuser weiterverkauft habe.13 Um das Gesprochene zu untermalen, sollen wir die Wohnungen von innen sehen. Schnell entsteht die Dynamik, dass einige Mitglieder unserer Gruppe in den privaten Raum dieser Menschen geführt werden und nicht nur sprachlich, aber vor allem wegen des sehr unvermittelten Eindringens in das Leben der Bewohner*innen, überfordert sind. Erst wollen uns einige Bewohner*innen nicht hineinlassen, aber nachdem uns die erste Familie bittet, einzutreten, tun es die anderen Bewohner*innen ihnen gleich. Die ‚Garagenwohnungen‘ sind sehr klein, haben keinen Anschluss zu fließend Wasser und Strom und sind zumeist von vielen Menschen bewohnt. Es ist interessant und beklemmend zugleich, zu beobachten, wie groß das Mitteilungsbedürfnis der Bewohner*innen ist. In diesem Moment kommt es uns sehr paradox vor, dass wir extra aus Deutschland nach Almería geflogen sind, um uns mit den Wohn- und Arbeitsbedingungen der migrantischen Arbeitskräften vertraut zu machen. In diesen Situationen, in denen uns die Bewohner*innen ihre Lebens- und Wohnsituation greifbar machen wollen, werden für uns die bestehende Machtbeziehungen, in denen wir als universitäre Gruppe den Bewohner*innen des Viertels El Puche begegnen, ganz deutlich, ohne dass wir aktiv etwas dafür tun. Auf die anstrengende und ambivalente Situation versuchen wir zu reagieren, ohne die Bewohner*innen zu enttäuschen.

Mit Rap gegen Marginalisierung

DISTRITO-09: Mit Rap gegen Marginalisierung. Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Nach dem Trubel um die ‚Besichtigung‘ der ‚Garagenwohnungen‘ verspüren viele von uns das Bedürfnis, den Ort zu verlassen, um nicht in weitere unbehagliche Situationen zu geraten, die wir nicht zu meistern wissen. Doch eine unserer Kontaktpersonen im Viertel hat andere Pläne. Die Polizei sei auf dem Weg um eine Wohnung zu räumen und wir, als Gruppe, sollen die Nachbar*innen dabei unterstützen, das Vorhaben zu verhindern. „Wenn ihr da seid, dann schmeißen sie die Leute nicht raus.“ Wir gehen also mit. Zwar stellt sich bald heraus, dass die Räumung zunächst ‚nur‘ schriftlich angekündigt wurde, doch finden wir in diesem Innenhof einen zu einem Studio umgebauten Container und eine Gruppe junger Männer von der Gruppe Distrito-09, die zu eingespielten Beats am Mikrofon im politischen Rap ihre Forderungen kundtun. In Anbetracht unserer größeren Menschenmenge entwickelt sich bald eine kleine Konzertsituation: die Band in wechselnder Besetzung – auch mit sehr junger Unterstützung – im mit zahlreichen Posters behangenen Raum und wir als Zuschauer*innen traubenförmig davor. Distrito 09 & Co. rappen über ihr Viertel, über Schwierigkeiten und Marginalisierung, aber auch über ihre Verbundenheit mit dem Ort und seinen Menschen. Der Ausbau des Containers entspricht nicht den städtebaulichen Vorstellungen und neben immer wieder angedrohten Räumungen soll nun eine Strafe bezahlt werden. Schwer nachzuvollziehen, wenn sich die Bewohner*innen dieses doch zumeist vernachlässigten Stadtteils einen alten Container aneignen, ein Dach bauen und damit einen kreativen Raum schaffen, der eine zentrale Rolle im Leben seiner Macher*innen darstellt. Am Samstag soll ein größeres Konzert der Gruppe stattfinden, dafür werden noch schnell ein paar Poster verteilt. Aber zu dem Zeitpunkt werden wir bereits auf dem Heimweg sein.

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Mitten in der kleinen Konzertsituation.
Foto: Exkursionsgruppe 1/2018

Wir als Zeug*innen und Mittler*innen

Durch unsere Anwesenheit sorgen wir auf eine gewisse Weise für Erwartungen, um so geschaffene Zeugenschaft weiterzutragen. „Ihr müsst euch anschauen wie die Leute hier leben und davon berichten“. Dieser Aufforderung eines Bewohners gehen wir durch das Erstellen dieses öffentlichen Blogs nach. Haben sich die Menschen in El Puche uns anvertraut, weil sie sich erhofft haben, dass wir für eine Verbesserung ihrer Verhältnisse sorgen? Auch wenn wir vor Ort unsere kurze Anwesenheit transparent machen, ist nicht klar, inwiefern wir Hoffnung bei den Personen, mit denen wir gesprochen haben, geschürt haben. Es wirkte so, als seien Teile der Bewohner*innen erfreut darüber, dass wir als Menschen, die nicht aus ihrem Viertel kommen, Interesse an ihrer Wohn- und Lebenssituation haben. Vielleicht ist dieser Besuch ein Zeichen gegen das Gefühl der Ausgrenzung. Zugleich können die Bewohner*innen uns über die prekären Verhältnisse aufklären.

Doch nicht alle Bewohner*innen waren erfreut über unseren Besuch. Festgestellt haben wir diese Ressentiments einiger Bewohner*innen als wir zurück zu unseren Mietwagen gelaufen sind. Zwei von dreien haben Dellen und einen abgetretenen Spiegel. Aber welche andere Option wäre uns übrig geblieben? Hätten wir gar nicht zu dieser Community-Versammlung gehen sollen, nachdem wir von Bewohner*innen eingeladen wurden? Wir sind der Meinung, dass der Besuch in El Puche an diesem Abend trotz des häufigen Unwohlseins wichtig für unsere Exkursion war, um möglichst viele Perspektiven kennenzulernen. Aus der Woche in Almería bildete sich bei uns ein Gesamteindruck aus den kurzen, immer wieder auf einzelne, knappe Eindrücken begrenzte Aufenthalten. So war auch dieser Abend in El Puche einer dieser kurzen, aber prägenden Eindrücke.

Literatur

Fernández, David (2018): Historias de exclusión en el barrio de El Puche en Almería. [Online verfügbar hier, zuletzt geprüft am 29.05.2018].

Huke, Nikolai (2017): „Sie repräsentieren uns nicht.” Soziale Bewegungen und Krisen der Demokratie in Spanien. Münster: Westfälisches Dampfboot

Raya, Josep Maria (2107): The determinants of foreclosures: Evidence from the Spanish case. In: Regional Science, 97, 4, [Online verfügbar hier, zuletzt geprüft 27.01.2019]

Fußnoten

  1. Eine überschaubare und leicht verständliche Zusammenfassung zur spanischen Immobilienblase wird in dem Video „Die spanische Immobilienblase” realisiert.
  2. vgl. Huke, Nikolai 2017: 207
  3. vgl. Raya 2017: 3
  4. vgl. ebd.: 11
  5. vgl. ebd.: 12
  6. vgl. Huke, Nikolai 2017: 191
  7. vgl. Fernández, David 2018
  8. vgl. ebd.
  9. vgl. ebd.
  10. vgl. ebd.
  11. vgl. ebd.
  12. vgl. Raya 2017: 11f.
  13. vgl. Fernández, David 2018