Während unserer Exkursion zum Thema Landwirtschaft und Migration in die Region Almería in Südspanien stellten wir uns oft die Frage, wie ein Wirtschafts- und Handelssystem ohne Ausbeutung funktionieren könnte, welches alle Beteiligten fair behandelt. Bisher wird der Begriff fairer Handel jedoch nur in Handelsbeziehungen zwischen globalem Süden und globalem Norden verwendet. Dahinter steckt die unausgesprochene Annahme, dass Handel und Wirtschaft im globalen Norden nachhaltig und fair abläuft. Dass davon nicht ausgegangen werden kann, haben wir in Almería wahrgenommen. Mit Blick auf Europa scheint es uns sinnvoll, einen Blick auf die bisherigen Versuche zu werfen, internationalen Handel nachhaltig zu gestalten. Dazu haben wir uns mit einer Expertin für die Nachhaltigkeit globaler Lieferketten getroffen. Mit Janna Vogel haben wir uns über ihre Arbeit zu globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten, über Schwierigkeiten und Chancen der Zertifizierungen von Agrarprodukten sowie über eine mögliche Zukunft nachhaltiger Landwirtschaft unterhalten.

Bevor Janna anfing für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu arbeiten, war sie drei Jahre beim Verband für Entwicklungspolitik Niedersachsen beschäftigt und setzte sich mit den globalen Auswirkungen lokalen Handels auseinander. Ihren Berufseinstieg hatte sie bei der Stiftung Weltbevölkerung in Hannover. Sie studierte im Master Public Policy in Berlin und im Bachelor Philosophy and Economics in Bayreuth.
F: Du arbeitest bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in einem Sektorvorhaben zu globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten. Kannst du uns erklären was das bedeutet?
J: Sektorvorhaben sind vor allem zuständig für die Beratung des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), also dem Entwicklungsministerium. In unserem Sektorvorhaben beschäftigen wir uns mit globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten von Produkten, die in Deutschland stark nachgefragt werden, aber aus Entwicklungsländern kommen. Dazu gehören Kakao, Baumwolle, Palmöl, Kaffee und Bananen. Neben unserem gibt auch noch andere Sektorvorhaben, die sich beispielsweise mit Lieferketten der Textilindustrie auseinander setzen.
F: Was heißt in diesem Zusammenhang Beratung des Entwicklungsministeriums?
J: Praktisch sieht unsere Arbeit vor allem so aus, dass wir dem Ministerium Hintergrundinformationen liefern. Startet zum Beispiel eine Nicht-Regierungs-Organisation eine Kampagne für faire Lieferketten, dann muss das Ministerium dazu Stellung beziehen und wir liefern die dazu benötigten Informationen. Das heißt, wir machen fachliche Beratung. Darüber hinaus begleiten wir politische Prozesse und Multi-Stakeholder-Prozesse für das BMZ und arbeiten an der Umsetzung von Pilotprojekten.
F: Kannst du ein Beispiel für eure Arbeit geben?
J: Der Minister hat sich beispielsweise vorgenommen, dass für nachhaltig produzierten Kaffee die Kaffeesteuer abgeschafft werden sollte. Dadurch möchte er die Anreize erhöhen nachhaltigen Kaffee zu kaufen. Die Beratung dazu ist ist momentan ein wichtiger Bereich unserer Arbeit. Ein weiteres aktuelles Thema ist die Entwaldung für den Anbau von Agrarprodukten. Entwaldung ist eine Nachhaltigkeitsherausforderung, die sich durch klassische Zertifizierung nicht nachhaltig lösen lässt. Wir beraten das Ministerium zu neuen Lösungsansätzen, setzen zusätzlich Pilotprojekte für entwaldungsfreie Anbauregionen in Indonesien und der Elfenbeinküste um und begleiten relevante politische Prozesse dazu in Deutschland und Europa. Darüber hinaus setzen wir auf Multi-Stakeholder-Prozesse – auch in Deutschland. Dabei holen wir unterschiedlichste Akteur*innen an einen Tisch. Dazu gehören auch Foren in Deutschland, beispielsweise die Foren zu nachhaltigem Kakao, Bananen oder Palmöl.
F: Ein großer Teil der in Deutschland erhältlichen Bananen ist mittlerweile zertifiziert. Warum sind in diesem Bereich trotzdem weitere Anstrengungen notwendig?
J: Richtig, selbst bei den Discountern tragen viele Bananen ein Siegel. Aber es gibt trotzdem noch große Herausforderungen: Beim Bananenanbau gibt es kaum Kleinbauern und -bäuerinnen, sondern vor allem große Plantagen. Die Arbeitnehmer*innen haben nach wie vor häufig keine Möglichkeit Gewerkschaften zu bilden und die Verdienste sind sehr gering. Selbst bei als fair zertifizierten Produkten ist der Lohn nicht immer ausreichend für die Existenzsicherung der Arbeiter*innen.
F: Das geht vollkommen gegen mein erstes Gefühl bei dem Wort Fairtrade.
J: Versteh mich nicht falsch, Produkte aus dem fairen Handel bewirken in der Regel schon eine enorme Verbesserung zu „normalen” Arbeits- und Lohnverhältnissen: Beim Fairtrade-Siegel erhalten die Produzent*innen beispielsweise für fast alle Agrarrohstoffe einen Mindestpreis. Zusätzlich zum Verkaufspreis erhalten die Fairtrade-Kooperativen eine Fairtrade-Prämie. Die Bauernfamilien bzw. die Beschäftigten auf Plantagen entscheiden gemeinsam in einem demokratischen Prozess, in welche sozialen, ökologischen oder ökonomischen Projekte die Prämie investiert wird und welche Ziele erreicht werden sollen. Meistens geht auch ein Teil in Projekte um die Landwirtschaft effizienter zu machen. Generell ist das Thema existenzsichernde Löhne bzw. Einkommen jedoch eine sehr große Herausforderung, selbst bei den Siegeln bzw. Standardsystemen, die großen Wert auf die Umsetzung von Sozialkriterien legen. Gerade Kleinbauern und -bäuerinnen erwirtschaften bisher nur sehr selten ein existenzsicherndes Einkommen.
F: Wieso gelingt das nicht?
J: Die Umsetzung steckt noch in den Kinderschuhen. Schon alleine, weil die Berechnung von existenzsichernden Einkommen sehr komplex ist: Was existenzsichernd heißt, ist eben auch von Ort, durchschnittlicher Familiengröße und anderen Faktoren abhängig. Durch die Steigerung der Effizienz des Anbaus und eine Verbesserung der Anbaumethoden können Einkommen der Bäuerinnen und Bauern verbessert werden, daran arbeiten wir in der Entwicklungszusammenarbeit seit vielen Jahren. Mittlerweile ist aber deutlich geworden: Das alleine reicht nicht aus! Um den Kleinbäuerinnen und -bauern ein existenzsicherndes Einkommen zu ermöglichen, müssen sie bessere Preise für Ihre Produkte erhalten. Und diese Preise durchzusetzen ist sehr komplex.
F: Wieso lassen sich nicht viel mehr Bauer und Bäuerinnen zertifizieren, wenn sie dadurch höhere Preise bekommen können?
J: Dies liegt vor allem an den Kosten der Zertifizierung. Wir sehen leider oft, dass sich sogar Zusammenschlüsse nach der Anschubfinanzierung die Zertifizierungskosten nicht leisten können. Zusätzlich ist für viele Bereiche die Nachfrage nach zertifizierten Produkten zu gering, um die Umstellung profitabel zu machen.
F: Wo siehst du besondere Schwierigkeiten, wenn du dir die momentan existierenden Siegel anschaust?
J: Als Verbraucherin finde ich die momentane Siegellandschaft sehr unübersichtlich. Besonders mit firmeneigenen Siegeln wird das Chaos noch größer. Und das geht vielen Menschen so, wenn wir uns Umfragen anschauen. Die GIZ hat deshalb für das BMZ das Siegelvergleichsportal www.siegelklarheit.de initiiert. Hier erhalten die Verbraucher*innen übersichtliche Informationen zu vielen unterschiedlichen Siegeln.
F: Wie schätzt du insgesamt die Verlässlichkeit von Zertifizierungen ein?
J: Gerade am Fairtrade-Siegel gab es in den letzten Jahren vermehrt Kritik, weil auf einzelnen Plantagen die strengen Auflagen nicht eingehalten wurden. Nach den uns vorliegenden Informationen aus Studien und von den Kolleg*innen vor Ort sind das jedoch absolute Einzelfälle. Im Bereich der Standardsysteme ist eine Mitgliedschaft bei der Dachorganisation „ISEAL” ein guter Anhaltspunkt für die Glaubwürdigkeit des jeweiligen Siegels – um Mitglied zu werden, müssen die Standardsysteme bestimmte Mindestkriterien einhalten. Neben Fairtrade sind dort beispielsweise auch Rainforest Alliance oder FSC Mitglied.
F: Sollte der Staat mehr in die Zertifizierungsprozesse eingreifen?
J: Wenn wir uns Entwicklungsländer anschauen wofür die Siegel da stehen: Keine Kinderarbeit, Gewerkschaftsfreiheit, dann sind das oft Dinge, die der dortige Staat ohnehin garantieren sollte. Leider sind schwache Staaten dazu oft nicht in der Lage.
F: Nicht nur in Entwicklungsländern, auch in Almería ist es laut dem REWE-Unternehmenssprecher ein Fortschritt, wenn dort tariflich festgelegte Löhne gezahlt werden. Dort würde ein Fairtrade-Siegel wahrscheinlich einen Fortschritt darstellen.
J: Es gibt auch tatsächlich enge Kooperationen zwischen Staaten und Siegelorganisationen. Entwicklungsländer nutzen private Standardorganisationen – bisher allerdings nur in einigen wenigen Fällen – um bestimmte soziale und ökologische Anforderungen sicherzustellen. Das kann für den Staat wesentlich einfacher sein, als die Standards durch eigene Auditierung selbst zu überprüfen. Gleichzeitig eröffnen sie den auditierten Kleinbäuerinnen und- bauern dadurch den Zugang zu internationalen Märkten. Die Zusammenarbeit kann also sehr fruchtbar sein. Auch in Deutschland und Europa nutzen staatliche Institutionen private Siegel, beispielsweise im Bereich der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung. Hier werden Sie als Nachweis für nachhaltige Produkte genutzt, die der Staat selbst einkauft.
F: Was ist dir persönlich wichtig für die Zukunft unserer Landwirtschaft?
J: Ganz klar Regionalität, dass Menschen wieder näher an ihrem Essen sind oder das Essen an den Menschen. Dass Menschen einen Bezug dazu bekommen, was sie auf dem Teller haben. Das heißt nicht, dass ich gegen den Konsum von Schokolade oder Kaffee bin – dazu mag ich beides selbst zu gerne. Außerdem sind das ja wichtige Einkommensquellen der Menschen in den Entwicklungsländern – vor allem, wenn wir fair gehandelte Produkte kaufen. Aber in vielen anderen Bereichen können wir uns gut regional versorgen. Und das meine ich nicht nur als Verbraucher*innen in Europa. Das gilt genauso für Bauern und Bäuerinnen in anderen Weltregionen, dort nur in anderer Art und Weise. Dort ist es oft eine einseitige Exportorientierungg und damit die Abhängigkeit vom Weltmarktpreis, die den Menschen zu schaffen macht.
F: Denkst du dabei auch an Selbstversorgung als Möglichkeit?
J: Das wäre natürlich optimal, aber ich glaube nicht, dass wir das heutzutage von jedem erwarten können. Das erscheint mir relativ utopisch. Aber Ideen wie die solidarische Landwirtschaft finde ich sehr interessant. Und auch Regionalität lässt sich gut vom Staat fördern! In Brasilien beispielsweise gibt es ein großes staatliches Programm zum Schulessen. Dabei ist die Vorgabe, dass ein gewisser Prozentsatz der verarbeiteten Produkte regional sein muss. Wenn die Schulen dann noch Bioprodukte verwenden, bekommen sie einen weiteren Zuschuss. Leider sehe ich momentan in Deutschland häufig nicht die Wertschätzung für gutes und nachhaltiges Essen wie in anderen Ländern. In Deutschland muss hauptsächlich der Preis stimmen.
F: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Felix Keß im Sommer 2018.