von Berit Blawert , Torben Weymann und Leonie Jantzer
Die Lage des spanischen Gewerkschaftssystems
Mit Ende des Franquismus 1975 und dem Beitritt Spaniens zur EU 1986 nahm der Anteil migrantischer Arbeitskräfte aus Marokko in der süd-andalusischen Provinz signifikant zu. Diese fanden vor allem in der regionalen Landwirtschaft Beschäftigung. Statistiken zufolge arbeiteten im Jahr 2000 auf den rund 30.000 Hektar in der Region Almerías um die 80.000 Landarbeiter*innen. Seit 2000 betreibt der Mittelmeerstaat eine gezielte Gastarbeiteranwerbung, ähnlich der Gastarbeiterpolitik der fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland. Vorzugsweise aus Marokko, aber auch aus Ländern südlich der Sahara werden Saisonarbeiter*innen für die Intensivlandwirtschaft ins Land geholt. Sie sollen im Gemüsegarten Europas für Billiglöhne und unter widrigen Bedingungen die Arbeiten übernehmen, die spanische Landarbeiter*innen zu den gebotenen Konditionen schon lange nicht mehr machen würden. Nach der Saison kehren sie in ihre Herkunftsländer zurück, legt ihr Vertrag fest. Das Leben der dort arbeitenden und lebenden Menschen ist geprägt von mannigfachen harten Bedingungen: von elenden Wohnsituationen, unsicheren Aufenthaltsstatus und extrem prekären Beschäftigungsverhältnissen auf den Feldern oder in den Verpackungsfabriken der Gemüseproduktion.
Einen ersten Eindruck davon, auf welche Weise die SOC-SAT die Landarbeiter*innen in Andalusien unterstützt, haben wir während unserer einwöchigen Exkursion erhalten. Diese intensiven sieben Tage haben uns nicht nur mit einer ungeheuren Vielzahl an Impressionen, sondern auch mit einer nicht minder großen Anzahl an Fragen zurückgelassen. Bereits während unseres ersten Treffens mit Vertreter*innen der SOC-SAT haben wir uns einen ersten Überblick über die derzeitige Situation vor Ort verschaffen können: Die Arbeitslosenrate in Almería sei im Vergleich zum Landesdurchschnitt hoch; allerdings seien es kaum Einheimische, die auf den südspanischen Feldern und in den Gewächshäusern arbeiteten. Obgleich die beiden größten Gewerkschaften Spaniens, die UGT (Unión general de trabajadores) und die CCOO (Comisiones Obreras) vor Ort vertreten seien, fühlten sich die migrantischen Landarbeiter*innen durch diese nicht (ausreichend) vertreten. Daher gelte die SOC-SAT unter den Arbeiter*innen als eine der wichtigsten Anlaufstellen.
An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern diese beiden großen und etablierten Gewerkschaften Spaniens die prekäre Situation der (migrantischen) Arbeiter*innen überhaupt im Blick haben und ihr entgegentreten. Um darauf eine Antwort zu finden, lohnt es sich, der Entwicklung des spanischen Gewerkschaftssystems im Allgemeinen nachzugehen.
Gewerkschaften befinden sich derzeit in der Defensive. Besonders bezeichnend ist diese Situation für Länder des globalen Nordens bzw. westliche Industrieländer. Die Mitgliederzahlen sind rückläufig, Tarifverträge verlieren ihre Bindekraft und Arbeitsplätze werden an Niedriglohn-Standorte verlagert. 1 Gerade in Spanien erscheint der Handlungsbedarf seitens der Gewerkschaften enorm, ist es doch eines jener Länder der Europäischen Union, die am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Besonders hoch ist die Arbeitslosenrate im südspanischen Andalusien.
Doch obgleich die Lage vieler Arbeiter*innen in Spanien prekär ist und diese eine gewerkschaftliche Unterstützung bitter nötig hätten, leidet das spanische Gewerkschaftssystem an einem starken „lack of representativness“. Dieser Umstand spiegelt sich auch in Zahlen wider: Lediglich 19 % aller Arbeitnehmer*innen sind überhaupt in irgendeiner Weise (gewerkschaftlich) organisiert. 2
Die Regierung genießt bei vielen Spanier*innen wenig Vertrauen, vor allem bei prekarisierten Arbeiter*innen, konnte sie doch die seit der Krise 2008 besonders virulente Problematik der Arbeitslosigkeit nicht wirklich lösen. Ferner ist die Stimmung geprägt von Unmut seitens der Bevölkerung und erheblichen Spannungen zwischen dem Partido Socialista Obrero Español (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei, kurz: PSOE), der zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Krise bis 2011 regierenden und seit Kurzem auch wieder aktuellen Regierungspartei Spaniens, und den beiden größten Gewerkschaften, der sozialistischen Richtungsgewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) und der kommunistisch orientierten Comisiones Obreras (CCOO) 3.
Unión general de trabajadores (UGT) und Comisiones Obreras (CCOO)
Der Sieg der Faschist*innen im Jahre 1939 ging mit einem Verbot nahezu aller freien Gewerkschaften einher. In den späten 1950ern gründeten kommunistische Gewerkschafter*innen vereinzelt Gruppen innerhalb einiger Betriebe, die sogenannten Kommunistischen Arbeiterkommissionen, die auch der heutigen Gewerkschaft CCOO ihren Namen geben. Zur Zeit der Diktatur unter Franco galten jene Kommissionen als einzige Alternative zum faschistischen Staatssyndikalismus. Nach der Deklarierung der CCOO als illegal im Jahre 1967 erlangten Gewerkschaften ihre Unabhängigkeit erst mit Ende der Franco-Diktatur 1975 wieder.4 Noch heute gilt die CCOO als die mitgliederstärkste Gewerkschaft Spaniens, dicht gefolgt von der UGT.
Legt man an dieser Stelle den Fokus auf die Charakteristika und Ausrichtung dieser beiden Gewerkschaften, so lässt sich zunächst festhalten, dass beiden eine duale Struktur unterliegt. Auf der einen Seite findet sich die Zuordnung für geographische Gebiete wie Regionen und Städte, auf der anderen Seite der sogenannte ökonomische Sektor. Aufgabenbereiche innerhalb dieser beiden Sektoren sind somit zum einen soziopolitische Angelegenheiten, wie etwa die Organisation und Durchführung von Demonstrationen und/oder Streiks in den jeweiligen lokalen Betrieben (geographisch), und zum anderen Gewerkschaftsaktivitäten in den Betrieben und Tarifverhandlungen (wirtschaftlich).5 Beide Gewerkschaften verfügen über eine professionelle und bürokratische Infrastruktur und bieten Beratungsangebote für ihre Mitglieder an. Sowohl die CCOO als auch die UGT investieren viel in Verhandlungen mit der spanischen Regierung und der Arbeitgeber*innenseite. Eine Kooperation, die mitunter den Interessen der Arbeiter*innen entgegenstehen kann, wie uns Genoss*innen der SOC-SAT berichteten. Eine gewerkschaftliche Organisierung in Form von Streiks oder Versammlungen findet derweil nicht oder kaum statt. Kritisiert kann daher werden, dass sie damit zur Entwicklung entpolitisierter Arbeitsbeziehungen beitragen. Damit sind Arbeitsbeziehungen gemeint, in denen Arbeiter*innen nicht für ihre Rechte kämpfen und den Status Quo der Arbeitsbedingungen akzeptieren. Der Soziologe Caruso beschreibt die Arbeit der beiden großen Gewerkschaften als eine ‘Service-Leistung’ für Arbeitnehmer*innen, anstelle einer gemeinsamen Organisierung: „A union member is more a customer than a militant.“ 6
Richtet man den Blick konkreter auf die ideologische Ausrichtung der Gewerkschaften, wird ein Gegensatz deutlich: Während die CCOO unter Einfluss der kommunistische Partei steht, ist die UGT deutlich sozialistisch ausgerichtet. Sowohl die Gewerkschaft UGT als auch die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) wurden von Pablo Iglesias Posse gegründet.7 Obgleich sich beide Gewerkschaften für eine Einheitsgewerkschaft aussprachen bzw. zum Teil noch immer aussprechen, ist die (Zusammen-)Arbeit durch ein hohes Konfliktpotential zwischen UGT und CCOO geprägt. Kommunist*innen bzw. Sympathisant*innen des Kommunismus werfen der UGT mangelndes Klassenbewusstsein und zu starken Reformismus vor. Während Anhänger*innen der UGT die CCOO wiederum für zu antisozialistisch halten.8 Dieses gegenseitige Misstrauen rührt zum einen aus der Zusammenarbeit zwischen UGT und der in der Kritik stehenden PSOE-Regierung und zum anderen aus der Nähe der CCOO zur kommunistischen Partei.
Die Überlegung hinsichtlich einer Einheitsgewerkschaft, respektive der „Versuch, der spanischen Industrialisierungs- und Technologiepolitik eine sozialpolitische Alternative entgegenzustellen“9, führt zunächst zu einer Annäherung zwischen den ideologisch unterschiedlich ausgerichteten Gewerkschaften UGT und CCOO. Beide Gewerkschaften haben mit einem starken Vertrauensschwund seitens der Bevölkerung zu kämpfen:
Spanish unions are losing influence as they suffer from a deterioration of their institutional and social legitimacy.
Köhler/Calleja Jiménez 2015: 254
Spricht man an dieser Stelle vom Einbüßen von Vertrauen, darf die Diskussion um den Kollektiv-Tarifvertrag (convenio) nicht unerwähnt bleiben: Wie uns einige Genoss*innen von der SOC-SAT erzählten, gebe es in Andalusien den mit Abstand schlechtesten Tarifvertrag überhaupt. Hinzu komme, dass auch dieser nicht eingehalten werde. Der Tarifvertrag wurde 2013 zwischen den beiden großen Gewerkschaften UGT und CCOO und Vertreter*innen der Arbeitgeber*innen ausgehandelt. Die beiden großen Gewerkschaften Spaniens stehen in der Kritik, sich in der Verhandlung nicht ausreichend auf die Seite der Arbeiter*innen gestellt zu haben bzw. noch immer nicht zu stellen. Grund dafür sei, dass sie zu stark im bestehenden System integriert seien, wie ein Genosse der SOC-SAT erklärte. Ausführlichere Informationen zum Convenio enthält der Beitrag zum Convenio Colectivo in Almería.
Herausforderungen spanischer Gewerkschaften und Veränderung der Organisationsstruktur hin zum Social Movement Unionism
Der Bedarf an Unterstützung der Arbeitnehmer*innen ist zweifelsfrei existent, dennoch erhalten Gewerkschaften wenig Zulauf. Was genau sind die Gründe hierfür? Vor allem Zeitarbeiter*innen und (junge) migrantische Arbeitende geben an, sich durch die Gewerkschaften nicht ausreichend repräsentiert zu fühlen; die Gewerkschaften seien eher auf ältere Menschen ausgerichtet. Zudem liege ein zu geringer Fokus auf Jugendarbeitslosigkeit und die Gewerkschaften würden vorwiegend Partikularinteressen verfolgen anstelle eines intersektionalen Ansatzes. Diese Kritik deckt sich mit den Aussagen der Arbeiter*innen, mit denen wir in Almería gesprochen haben: Obgleich sowohl CCOO als auch UGT vor Ort Büros betreiben, fühlen die Landarbeiter*innen ihre Interessen von diesen Organisationen nicht vertreten. Zudem sind die Aufnahmekriterien an mehr Bedingungen geknüpft als die der SOC-SAT.
wirft man einen Blick auf den sozio-politischen Rahmen, so lassen sich „politische Prioritäten wie die Kontrolle des öffentlichen Defizits und die Kürzung von Sozialleistungen und Arbeitskosten“ feststellen.10 Die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und das darauf folgende neoliberale Krisenmanagement haben daher die Arbeit und die Stärke der Gewerkschaften massiv beeinträchtigt. Insbesondere der harte austeritäspolitische Kurs der PSOE-Regierung (Rentenkürzungen, Lockerung des Kündigungsschutz, Kürzung der Sozialausgaben etc.) hat letztendlich dazu beigetragen, dass die institutionelle Machtposition sowie die Mitspracherechte der Gewerkschaften geschwächt wurden und sich dadurch ihr politischer Handlungsspielraum erheblich verringert hat.
Wie an den Ausbeutungsverhältnissen in der andalusischen Landwirtschaft unschwer zu erkennen ist, existiert zweifelsohne ein hoher Bedarf an starken Gewerkschaften. Jedoch verhindern „schwache Organisationsstrukturen und [die] nachfrankistische Tradition der Gewerkschaften […] [eine] Restrukturierung als schlagkräftige Arbeitnehmervertretung bis heute“.11 Die Einheitsgewerkschaft bleibt eine Utopie.
Ein Grund für den rückläufigen Trend etablierter Gewerkschaften in Andalusien ist, dass ihre Arbeit die Situation migrantischer Lohnabhängiger zu wenig berücksichtigt. Ein Umstand, der innerhalb diverser Gespräche mit dem leitenden Gewerkschaftssekretär der SOC-SAT Erwähnung fand und der die Notwendigkeit der Arbeit der SOC-SAT hervorhebt. Ferner wird eine weitere Schwäche der spanischen Gewerkschaften wie CCOO oder UGT darin gesehen, dass es diesen noch immer an Internationalisierung bzw. einer internationalen Ausrichtung mangelt. Bereits Mitte der 1970er Jahre kritisierte der Wissenschaftler Walter Kendall, dass Arbeiter*innenbewegungen – obgleich eine gewisse international ausgerichtete Ideologie vorhanden war – selten über nationale Staatsgrenzen hinausgingen. Mit der Etablierung internationaler Zusammenschlüsse, wie beispielsweise der Europäische Gemeinschaft, seien Fragen der internationalen Organisation und Betätigung der Arbeiter*innenschaft jedoch mehr und mehr in den Vordergrund geraten.
Aktueller wissenschaftlicher Literatur zufolge wurde das Problem der fehlenden Internationalisierung der Arbeiter*innenbewegung noch nicht gelöst: Gewerkschaftsverbände sind in Europa noch immer zu stark innerhalb der Wachstums- und Wettbewerbslogik des Nationalstaats verankert. Angesichts der globalisierten Arbeitsmärkte erscheint eine gewerkschaftliche Politik, die auf den jeweiligen Nationalstaat ausgerichtet ist, nicht mehr zeitgemäß. Strategien zur Steigerung der internationalen Ausrichtung und Vernetzung von Gewerkschaften sind daher zweifelsohne vonnöten.
Mit einer solchen internationalen Ausrichtung der Gewerkschaften geht die Formierung von Allianzen mit anderen sozialen Bewegungen einher, die zu Gunsten der „am meisten vulnerablen und ausgebeuteten sozialen Gruppen” agieren.12 Derartige Zusammenschlüsse, die transnational vernetzt sind und versuchen, Interessen breit zu vertreten, könnten angesichts der konstant abnehmenden Mitgliederzahlen etablierter Gewerkschaften in Spanien für eine Revitalisierung der Arbeiter*innenbewegung sorgen.

Foto: Exkursionsgruppe 1/2018
Literatur
Däubler, Wolfgang; Lecher, Wolfgang (Hrsg.) (1991)): Die Gewerkschaften in den 12 EG-Ländern. Europäische Integration und Gewerkschaftsbewegung. Bund-Verlag GmbH, Köln.
Huke, Nikolai; Tietje, Olaf (2014): “Zwischen Kooperation und Konfrontation. Machtressourcen und Strategien der spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT in der Eurokrise”. In: Industrielle Beziehungen / The German Journal of Industrial Relations, Jahrg. 21, H. 4 (2014), pp. 371-389 .
Köhler, Holm-Detlev; Calleja Jiménez, José Pablo (2015): “’They don’t represent us!’ Opportunities for a Social Movement Unionism Strategy in Spain”. In: Relations Industrielles / Industrial Relations Vol. 70, No. 2 (SPRING 2015), pp. 240-261 .
Lima, Campos; da Paz, Maria; Martín Artiles, Antonio (2011): Crisis and trade union challenges in Portugal and Spain: between general strikes and social pacts
Miguélez Lopez, Faustino (2002): “Die Modernisierung der Gewerkschaften in Spanien”. In: Waddington, Jeremy; Hoffmann, Reiner (Hrsg.): Zwischen Kontinuität und Modernisierung. Gewerkschaftliche Herausforderungen in Europa. Westfälisches Dampfboot, Münster.
Fußnoten
- Vgl. Miguélez Lopez 2002: 348
- vgl. Köhler/Calleja Jiménez 2015: 245
- vgl. Huke/Tietje 2014: 371
- vgl. Miguélez Lopez 2002: 348
- vgl. Köhler/Calleja Jiménez 2015: 245
- Caruso 2017, S. 281
- vgl. da Paz/Campos/Martín Artiles 2011
- vgl. Däubler/Lecher 1991: 91
- Däubler/Lecher 1991: 90
- Köhler/Calleja Jiménez 2015, S. 245; eigene Übersetzung
- Köhler/Calleja Jiménez 2015: 245f.
- Köhler/Calleja Jiménez 2015: 243