von Felix Keß und Laura Dederichs
Ob Demeter, EU-Biosiegel oder Fairtrade, wohl jede und jeder kennt diverse Lebensmittelzertifizierungen. In manchen Supermärkten kann die Vielfalt an Siegeln geradezu erschlagend wirken. Das Versprechen lautet meistens: bessere Qualität und gleichzeitig noch ein bisschen die Welt retten. Internetseiten und Leitfäden zur Erklärung von Siegeln und was dahinter steht gibt es mittlerweile einige.1 Doch was ist der grundlegende Sinn und Zweck von Zertifizierungen? Was sind die dahinterliegenden Mechanismen, wie funktionieren diese? Und wie ist unser Konsum dieser zertifizierten Produkte zu bewerten?
Dies zu ergründen ist Ziel dieses Artikels. Ausgehend von den konkret in unserem Feldaufenthalt in Almería angetroffenen Beispielen wird dabei ein Bogen zum allgemeineren Sinn und Zweck von Zertifizierungen geschlagen, bevor Qualitäts- und Nachhaltigkeitssiegel einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Während des gesamten Artikels werden die Begriffe Siegel/Zertifizierung/Gütezeichen/Label synonym verwendet. Unterschiede zwischen den Begriffen sind für diesen Beitrag nicht relevant.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Gleich am zweiten Tag unserer Exkursion besuchten wir nachmittags in Kleingruppen Gewächshäuser und Verpackungshallen der andalusischen Landwirtschaft. Besonders in Erinnerung blieb uns dabei der Manager einer lokalen Auktionshalle, in der Kleinbauern und – bäuerinnen ihre Erzeugnisse an Zwischenhändler*innen und Aufkäufer*innen großer Supermarktketten verkauften. Zu Beginn unseres Gesprächs erwähnte er, dass alle Produkte dort von GLOBALG.A.P zertifiziert seien. Als er von uns nur ahnungslose Blicke erntete, konnte er sich ein fast schon hämisches Schmunzeln nicht verkneifen und meinte, dass Deutsche viele Zertifikate verlangten und selber nicht darüber Bescheid wüssten. GLOBALG.A.P ist ein globales Qualitätssicherungs- und Zertifizierungssystem und zugleich der Name der dahinterstehenden Organisation. Nach eigenen Angaben möchte GLOBALG.A.P (GAP steht für Good Agricultural Practices) eine gute landwirtschaftliche Praxis weltweit fördern und Anreize “zur Umsetzung sicherer und nachhaltiger Praktiken für landwirtschaftliche Produzenten weltweit (schaffen), um die Welt zu einem besseren Ort zum Leben für unsere Kinder zu machen“.2 Lebensmittelsicherheit und Nachhaltigkeit können dabei als Hauptziele genannt werden. Eine Zertifizierung nach GLOBALG.A.P wird von allen größeren europäischen Supermarktketten verlangt und kann als eine Art Mindeststandard der Landwirtschaft verstanden werden. Insofern hat die weite Verbreitung dieses Standards zu einer quasi-monopolistischen Position des Unternehmens geführt.3
Im Verlauf unserer Exkursion stießen wir auf weitere Lebensmittelzertifikate, so etwa das PRO-PLANET-Label von REWE, mit dem auch ACOGE Almeria kooperierte – eine Organisation, die sich der Integration und Partizipation von Migrant*innen und ihren Familien in die lokale Gemeinschaft widmet (Mehr zum Thema hier auf unserem Blog). Im Gegensatz zu dem eigenständigen Unternehmen GLOBALG.A.P. ist PRO-PLANET ein von der REWE-Group entwickeltes Label, mit dem über die Eigenschaften der Ware hinaus auch „ökologische und soziale Nachhaltigkeit”4 zertifiziert werden. REWE versteht das Label als eine ganzheitliche Ergänzung zu herkömmlichen Zertifizierungen. Die Anforderungen gehen dabei „weit über die GLOBAL G.A.P-Zertifizierung hinaus”5. Im Zuge dessen wird auf ein freiwilliges Modul für bereits von GLOBALG.A.P zertifizierte landwirtschaftliche Betriebe zurückgegriffen, in denen der Standard zur kontrollierten Landwirtschaft um soziale Aspekte erweitert wird (GRASP = GLOBALG.A.P Risk Assessment on Social Practices)6. ACOGE Almería dient REWE während dem Zertifizierungsprozess für das PRO-PLANET-Label als Partner, der für die Umsetzung sozialer Projekte in der Produktionsregion zuständig ist. Während GLOBAL.G.A.P als Zertifikat innerhalb der Wertschöpfungskette ursprünglich auf die Kontrollbemühungen des Einzelhandels gegenüber seinen Lieferant*innen zurückgeht,7 ist PRO-PLANET hingegen ein Siegel für Endverbraucher*innen. Teilweise wird es sogar als „Instrument des einzelbetrieblichen Marketings”8 bezeichnet, wodurch ihm jeglicher Nachhaltigkeitseffekt abgesprochen wird.
Idee und Zweck von Zertifizierungen
In der Volkswirtschaftslehre wird bei der theoretischen Betrachtung von Marktprozessen gerne vom perfekten oder vollkommenen Markt ausgegangen.9 Ein für die Fragestellung dieses Artikels äußerst relevantes Kriterium ist die Markttransparenz. Diese besagt, dass alle Marktteilnehmerinnen vollständige und gleichartige Informationen über das Marktgeschehen bzw. das Produkt besitzen. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: auch nur annähernd vollkommene Märkte sind rar gesät.10 Dieser Zustand trifft ebenfalls auf Märkte für landwirtschaftliche Produkte zu, bei denen „die größte Unzulänglichkeit darin besteht, dass die Verkäufer besser über Qualitätsmerkmale informiert sind als die Verbraucher”11. Siegel und Zertifizierungen sollen vor diesem Hintergrund dazu dienen, die ungleiche Informationsverteilung (Informationsasymmetrie) zwischen Produzentinnen und Käufer*innen über das Produkt zu verringern.12
Grafik 1 stellt dar, bei welchen Produkteigenschaften die Informationsasymmetrie zwischen Hersteller*in und Konsument*in am größten ist. Zuerst werden neoklassische Eigenschaften genannt. Diese bezeichnen eine weitere theoretische Annahme des perfekten Marktes, derzufolge alle Produkte eines Marktes vollständig gleich (homogen) und damit austauschbar (substituierbar) sind. Falls diese Annahme zuträfe und wir perfekt identische Tomaten hätten, wäre keinerlei Informationsasymmetrie zwischen Anbieter*in Nachfrager*in ivorhanden.
Grafik 1: Zunehmende Informationsasymmetrie
Zweitens bezeichnen Sucheigenschaften vor dem Kauf relativ leicht zu überprüfende Merkmale, wie die Frische oder das Aussehen des gehandelten Produkts. Hier beginnt die Informationsasymmetrie zwischen Anbieter*in und Nachfrager*in größer zu werden, da frische aussehende Tomate möglicherweise nur so wirkt. Als Beispiel dafür kann der Einfluss von Beleuchtung und Luftfeuchtigkeit im Supermarkt genannt werden, um die Produkte buchstäblich ins rechte Licht zu rücken. Nichtsdestotrotz sind diese Eigenschaften für Endverbraucher*innen noch vergleichsweise leicht zu erkennen. Schwieriger wird es schon bei Erfahrungseigenschaften wie dem Geschmack und der Haltbarkeit, da diese erst nach dem Kauf überprüft werden können. An dieser Stelle wird die Informationsasymmetrie zwischen Anbieter*in und Nachfrager*in erst nach dem Kauf verringert. Bei Vertrauenseigenschaften, wie der Verschmutzung mit Chemikalien, ist es für Einzelverbraucher*innen überhaupt nicht mehr möglich, ein eigenständiges Urteil über das Produkt zu fällen. Diese Informationen können (neben den Anbieterinnen) nur noch spezialisierte Institutionen wie Lebensmittellabore ermitteln und bereitstellen.13 Schließlich sind Potemkinsche14 Eigenschaften am Endprodukt gar nicht mehr zu kontrollieren, da sie Qualitäten des Herstellungsprozesses betreffen. Das Wort ‘potemkinsch’ bedeutet so viel wie: gut aussehend, aber in einem schlechten Zustand sein.15 Dazu gehören beispielsweise die Entlohnung oder allgemein die Behandlung von Arbeiter*innen. Bei diesen – versteckten – Eigenschaften ist die Informationsasymmetrie maximal, da diese nur während der Produktion erfasst werden können.
Im Bereich der Erfahrungseigenschaften liegt es im Interesse der Anbieter*innen, die Verbraucher*innen gut zu informieren und die Informationsasymmetrie nicht auszunutzen. Dies liegt daran, dass diese Eigenschaften von den Verbraucher*innen spätestens nach dem Kauf bemerkt werden und das Produkt bei Enttäuschungen möglicherweise nicht mehr gekauft werden würde. Wenn eine Tomate schnell verdirbt und nicht schmeckt, wird beim nächsten Einkauf wahrscheinlich eine andere Marke gewählt. Auf diese Weise besitzen Konsument*innen genügend Informationen, um das Unternehmen für schlechte Qualität zu bestrafen. Allerdings verfügen Konsument*innen bei Vertrauenseigenschaften und besonders bei potemkinschen Eigenschaften nicht über dieses Wissen und ihre Handlungs- bzw. Reaktionsmacht ist begrenzt.16

Staatliche Regelungen, welche beispielsweise die chemische Belastung oder die Inhaltsstoffe angebotener Lebensmittel kontrollieren, erscheinen bei Vertrauenseigenschaften bereits normal. Folglich sorgt der Staat dafür, dass die Informationsasymmetrie verringert wird, insbesondere hinsichtlich der Lebensmittelsicherheit. In diesen Fällen erfüllt der Staat durch Zwangsmaßnahmen die Rolle des Informationslieferanten. Diese Praxis wäre auch in anderen Bereichen denkbar.
Allerdings verursacht die Verringerung der Informationsasymmetrie bei potemkinschen Eigenschaften einen ungleich höheren Aufwand. Verbraucher*innen können es der Tomate logischerweise nicht ansehen, wie die Arbeiter*innen in den Gewächshäusern Almerías behandelt werden, ob beispielsweise Arbeitsstunden eingehalten und Pausen respektiert werden. Durch Siegel und Zertifizierungen wird auch in diesem Bereich versucht, die Asymmetrie zu minimieren. So geht es letztlich darum, Vertrauen zwischen Anbieter*in und Nachfrager*in zu schaffen und – im Idealfall – von Anbieter*innenseite beweisen zu können, dass es nichts zu verbergen gibt. Infolgedessen können Siegel und Zertifizierungen analog zu einem*r Makler*in als Informationslieferant*innen und damit als „nützliches Mitglied der Gesellschaft, welches das äußerst wertvolle Gut Information produziert”17, betrachtet werden.
Aber was würde passieren, wenn diese Informationsasymmetrien dadurch nicht verringert werden? In diesem Fall kann von einem Marktversagen aufgrund von asymmetrischer (also ungleich verteilter) Information gesprochen werden.18 Marktversagen bedeutet in diesem Fall, dass kein Markt für qualitativ höherwertige Produkte entstehen würde. Wie dieser Zustand entstehen kann, wird im Folgenden erklärt.
Laut der volkswirtschaftlichen Theorie bildet sich für jedes unterschiedliche Produkt ein eigener Markt mit einem eigenen Preis. Der Preis hängt dabei von Angebot und Nachfrage ab, welche durch bestimmte Eigenschaften des Produktes beeinflusst sind. Wir könnten zum Beispiel davon ausgehen, dass Tomaten ohne Pestizideinsatz in der Produktion teurer sind, dass Käufer*innen diesen Verzicht jedoch als positiv einschätzen und die höhere Qualität auch besser bezahlen würden. Marktversagen entsteht nun, wenn für die Verbraucher*innen keine Möglichkeit besteht, die unterschiedlichen Produkte zu unterscheiden. Schließlich kann einer Tomate nicht angesehen werden, unter wie viel Pestizideinsatz sie gereift ist. Darüber hinaus ist es noch weniger realisierbar, ausgehend von dem Aussehen oder dem Geschmack einer Tomate auf die Bezahlung der migrantischen Saisonarbeiter*innen schließen zu wollen. In diesem Fall dienen Zertifizierungen als Beweis und Rechtfertigung für die unterschiedlichen Preise, da es sich um unterschiedliche Produkte handelt. Ohne diese Beweise gäbe es keinen Anreiz zur Erzeugung qualitativ hochwertigerer Produkte.19 Um es mit einem Beispiel zu untermalen: Wenn im Supermarkt biologisch angebaute Tomaten neben unter höchstem Pestizideinsatz produzierten Tomaten lägen, wären die Tomaten für den*die Verbraucher*in weder durch Aussehen noch durch Geschmack zu unterscheiden. Aufgrund von Qualitätsunsicherheit und der bestehenden Informationsasymmetrie bezüglich der Vertrauenseigenschaften könnte der*die Verbraucher*in in dieser Situation nicht zielgerichtet die qualitativ höherwertigen Tomaten nachfragen.20 Dadurch könnte es sich keine Anbieter*in leisten, auf Dauer auf Pestizideinsatz – oder auf die Ausbeutung der Arbeiter*innen – zu verzichten, da „kostenträchtige Mehraufwendungen für qualitative Verbesserungen zum Wettbewerbsnachteil gereichen”21. Wenn es für die Anbieter*in keine Möglichkeit gibt, die höhere Qualität zu symbolisieren, kann der Markt – trotz einer eventuellen Nachfrage nach biologischen und fairen Tomaten – dafür nicht entstehen. Auch der Preis liefert in diesen Fällen keine Information über die Qualität des Produktes.22
Ein weiterer ökonomischer Nutzen von Siegeln liegt in ihrer Bündelung von Informationen. Mit den vollständigen Produkt- und Herstellungsinformationen wären wahrscheinlich sogar interessierte Verbraucher*innen überfordert. So zeigt die Konsumforschung, dass sich Verbraucher*innen im Normalfall an vereinzelten Informationen orientieren, die sie als besonders wichtig einstufen. Ein unübersichtliches Überangebot an Informationen führt zur Verwirrung und kann ausschlaggebend dafür sein, sich überhaupt nicht mit Produktinformationen zu beschäftigen. Dahingehen stellen Label neben der allgemeinen Erhöhung der Produkttransparenz auch vereinfachende Schlüsselinformationen bereit.23 Hierbei muss ein Gleichgewicht zwischen ausreichender und überfordernder Information geschaffen werden, sodass Verbraucher*innen eine begründete Wahl treffen können, dabei jedoch nicht von der Menge der Informationen erschlagen werden.24
Die Kontrolle der Siegel in der Praxis
In Anbetracht des oben aufgezeigten, breiten Angebots der Qualitätssicherung und -prüfung drängt sich die Frage nach der Praxis der Zertifizierung unweigerlich auf. Als vermittelnde Instanz zwischen der Produktion und dem Konsum nehmen Siegel wie die hier benannten GLOBALG.A.P. und PRO-PLANET eine potentiell machtvolle Position ein. Während von Seiten der Konsument*innen eine erhöhte Transparenz und Qualitätssicherheit auf dem von Angeboten überfluteten Markt gefragt ist, könnten Zertifizierungsfirmen entsprechende Standards festlegen und somit Druck auf die landwirtschaftliche Produktion ausüben. Zudem könnten sie durch eine intensiv kontrollierte Vergabe der Siegel Anreize setzen, um Abläufe und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Allerdings unterliegen die zertifizierenden Organisationen keinen staatlichen Strukturen, sondern privatwirtschaftlichen. Seit einigen Jahren schon ist die ‚Gütezeichenindustrie‘ in ihrem Wachstum nicht aufzuhalten und verleiht sämtlichen Produkten sowie Dienstleistungen ‚geprüfte‘ Qualität. So konkurriert auch in der Lebensmittelbranche eine Vielzahl an Institutionen, die durchaus ein ökonomisches Interesse daran haben, möglichst viele Siegel zu verkaufen. Folglich kann angenommen werden, dass Richtlinien weder sonderlich tiefgreifend definiert, noch übermäßig streng kontrolliert werden. Der*die Konsument*in verweilt derweil häufig in Unwissenheit über genaue Details der Zertifizierung und traut letztendlich intuitiv dem meistgesehenen Aufkleber.
Doch wie läuft die Vergabe von Siegeln ab? Dem Schutz der Lebensmittelsicherheit und Nachhaltigkeit verschrieben, werden von den brancheneigenen Siegelinstitutionen Standards festgelegt und entsprechende Zertifizierungen vergeben. Auf diese Weise können sich landwirtschaftliche Unternehmen beispielsweise bereits nach fünf erfolgreich abgeschlossenen Schritten mit dem einjährig gültigen GLOBALG.A.P.-Zertifikat auszeichnen lassen. Neben der Registrierung bei einer der zahlreichen Zertifizierungsstellen muss zunächst anhand der online verfügbaren Checkliste eine Eigenkontrolle durchgeführt werden. Im Laufe dieser Prüfung geht es unter anderem um die Geschichte des gesamten Geländes, die interne Kontrolle und Hygieneaspekte, aber auch um die Gesundheit, die Sicherheit und das Wohl der Arbeiter*innen (Sicherheitskleidung, Unterbringung, Erste-Hilfe). Des Weiteren wird die dabei anfallende Müllproduktion, der Nachhaltigkeitsaspekt und die involvierten Subunternehmen beachtet. Anschließend wird die Erstkontrolle von einer*m Mitarbeiter*in von GLOBALG.A.P. durchgeführt, sodass der Betrieb nach erfolgreicher Abnahme mit dem Integrated Farm Assurance Standard zertifiziert werden kann.25
Während unserer Zeit in Almería stießen wir immer wieder auf die Vergabe von Siegel, weshalb fast ebenso oft die Frage nach ihrer Kontrolle in der Praxis aufkam. Die Stärken der Zertifizierung, welche vor allem mit der gesteigerten Informiertheit der Konsument*innen und versicherten Qualität assoziiert werden, galt es vor Ort bald zu hinterfragen. Im Laufe unserer Gespräche erhielten wir ähnlich viele unterschiedliche Antworten auf die Frage der Kontrolle der Zertifizierungen, wie es Siegel auf dem Markt gibt. Während die einen ihr starkes Vertrauen in Zertifizierungsorgane als zuverlässige Kontrollinstanzen zwischen Produktion und Konsum ausdrückten, äußerten andere uns gegenüber auch viel Skepsis an der Siegelvergabe. Dabei fiel insbesondere das Stichwort green-washing (siehe Kapitel 4.2: Kritik an Siegeln in ihrer momentanen Ausgestaltung) immer wieder.
Bereits in einem ersten Gespräch mit Aktivist*innen der SOC-SAT wurde uns klar, dass solche Siegel nicht zwangsläufig für faire Arbeitsbedingungen und verlässlichen Lohn stehen. Trotz des regional festgelegten Tarifvertrages und staatlichen Regelungen bezüglich der Beschäftigung werden der Gewerkschaft zufolge viele Wege gefunden, um die Löhne möglichst gering zu halten (Mehr zum Thema hier auf unserem Blog). Die Zertifizierung und Inspektion in der spanischen Landwirtschaft werde vor allem von großen ausländischen, international agierenden Firmen wie GLOBALG.A.P. durchgeführt, berichteten uns Vertreter*innen der SOC-SAT. Aufgrund dessen würden fragwürdige Gegebenheiten in Unternehmen für den Moment der meist angekündigten Prüfung verschleiert. Auch die SOC-SAT ordnet bei Verdacht immer wieder entsprechende Prüfungen an, die jedoch zu ihrem Unmut ein bis zwei Monate Vorlaufzeit benötigen und häufig ohne Sanktionen verbleiben. Trotz Siegel zahlen viele Betriebe nicht den nach dem Tarifvertrag verbindlichen Mindestlohn (statt 45€ für 8 Stunden Arbeit, sind es häufig nur 32-35€). Ganz im Gegenteil, sie fordern sogar überlange Arbeitszeiten, zwingen die Arbeiter*innen dazu, für ihre täglichen Transportkosten selbst aufzukommen und vergeben so gut wie keine festen Verträge. Nach Einschätzung der SOC-SAT Almería hat die Einführung des GLOBALG.A.P. Siegels somit keine Verbesserungen für die Arbeiter*innen mit sich gebracht. Da das System auf niedrigen Löhnen und prekären Arbeitsverhältnissen basiert, die Arbeiter*innen möglichst flexibel, nutz- und austauschbar bleiben sollen, um den involvierten Unternehmen höhere Gewinne zu sichern, scheint eine tiefgreifende Veränderung und Stärkung der Zertifizierungspraxis weit entfernt. Auch das Vorhaben, den 2013 festgelegten Tarifvertrag der Region Almería erneut auszuhandeln und damit Missständen entgegenzuwirken, ist ein langwieriger, von Widerständen geprägter Prozess. Denn von Seiten der wirkungsmächtigen Akteure kommt keine nennenswerte Dynamik oder der Wille, für Wandel zu sorgen.
Bei unserem Besuch der COAG, der Interessenvertretung kleinerer Landwirt*innen der Region, wird ein anderes Bild der Situation um die Kontrollpraxis in Almería gezeichnet: Es fänden häufige, nicht angekündigte Inspektionen von staatlichen Organen statt, welche auch auf anonyme Beschwerden – z.B. wegen des Nichteinhaltens des Tarifvertrages – reagieren. Teilweise sei der immense Preisdruck von großen Firmen und Ketten problematisch für die Betriebe und Grund dafür, sich den geltenden Regelungen zu entziehen. Gleichzeitig räumten die Verter*innen der Landwirte auch ein, die schlechte bzw. unzureichende Bezahlung der Arbeiter*innen könne nicht die Lösung ihrer Probleme sein.
Das Argument, der übermäßige Druck des Marktes verhindere faire Löhne, begegnete uns auch bei der Nichtregierungsorganisation ACOGE Almería als direkter Projektpartner von PRO-PLANET. In Zeiten, in denen der Lohn der Arbeiter*innen das einzige sei, das der*die Produzent*in noch selbst in der Hand habe, sei dies oft die erste Stelle, an der gekürzt und eingespart würde – so die Argumentation. Der convenio (Tarifvertrag) verfüge dahingehend über keine große Macht. ACOGE selbst nimmt an dieser Stelle, neben ihren anderen Aktivitäten, eine vermittelnde Position ein und bringt nach Arbeitskraft suchende Landwirt*innen und (migrantische) Arbeiter*innen zusammen. Das Einhalten des vereinbarten Tarifvertrages sei dabei nicht erste Priorität bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen. Es gehe ihnen vor allem darum, dass Mindeststandards eingehalten, also zum Beispiel Nicht-Bezahlung und unmenschliche Zustände verhindert werden.26.
Im Rahmen der Zusammenarbeit mit REWE und deren PRO-PLANET-Label betreibt ACOGE ein eigenes Gewächshaus, welches zur Ausbildung von zukünftigen Gewächshausarbeiter*innen genutzt wird. Zudem bietet die NGO den Arbeitskräften eine Unterkunft mit offener Großküche unmittelbar bei den Gewächshäusern in Níjar und profitiert von dem gesponserten Van. REWE ist laut der NGO einer der wenigen Konzerne, die Projekte dieser Art finanzieren und damit einen Teil ihres Gewinns – den sie zuvor aufgrund ihrer machtvollen Marktposition erzielt haben – zurückgeben.
Sehr positiv wurde die Wirksamkeit von Siegeln und Zertifizierungen auch von einigen einigen Mitgliedern des Centro de Estudio de las Migraciones y las Relaciones Interculturales der Universität Almería eingeschätzt, mit denen wir im Rahmen unserer Exkursion einen Austausch organisierten. Während andere Branchen aufgrund der Finanzkrise in große Schwierigkeiten geraten seien, habe die Landwirtschaft von deren Folgen profitiert und sei heute eine der bedeutendsten Wirtschaftssektoren der Region. Der wirtschaftliche Aufschwung der Branche werde zudem durch verstärkte Kontrolle von staatlicher Seite, aber auch durch ausländische Firmen, wie GLOBALG.A.P., begleitet. Alle Akteure verfolgten das gemeinsame Ziel einer vertrauenswürdigen und in ihrer Qualität gesicherten Lebensmittelproduktion. Die Siegel vergebenden Unternehmen seien demnach eine wertvolle Vermittlungsinstanz zwischen den Produzent*innen und Konsument*innen und unterstützten dabei den wirtschaftlichen Erfolg der Region Almería im internationalen Export von Obst und Gemüse.
Siegel gut, alles gut?
Nachdem oben die Vorteile von Siegeln beschrieben und anschließend die Vergabe und Kontrolle der Siegel in der Praxis thematisiert wurden, nehmen wir nun die Kritik an den Zertifizierungen in den Blick. Dabei gliedert sich das Kapitel in zwei Teile: Im ersten Teil werden wir die allgemeine Kritik an Siegeln als Instrument der Qualitätssicherung darstellen, bevor wir im zweiten Teil auf die Kritik an Siegeln in ihrer aktuellen Ausgestaltung eingehen werden.
Kritik an Siegeln als Instrument
Kritik an Siegeln als Qualitätssicherungsinstrument wird auf vielfältige Art geäußert. Dabei lassen sich vor allem zwei Strömungen von Kritiker*innen ausmachen, die sich hinsichtlich ihres Glaubens an das verlässliche Funktionieren eines freien Marktes unterscheiden lassen. So glauben die einen an den freien Markt und erachten bereits die Verwendung von Siegeln und Zertifikaten als Eingriff in einen funktionierenden Mechanismus. Dagegen betonen die anderen die Schwächen bzw. Dysfunktionalität des freien Marktes, erachten den Eingriff durch Zertifikate als zu gering und fordern daher eine stärkere Einmischung des Staates.
In Kritiken, die dem Vertrauen in die Marktlogik entspringen, wird gegen Siegel eingewendet, sie seien zu starr, da sie bestimmte Richtlinien festlegten und damit Fortschritt verhinderten. Laut dieser Argumentation liegt – analog zum Beispiel der Tomate oben – kein Anreiz für Anbieter*innen vor, in qualitätsfördernde aber kostenintensive Maßnahmen zu investieren.27 Allerdings spricht diese Begründung unseres Erachtens nach nicht gegen die Verwendung von Siegeln, sondern beweist lediglich, dass Siegel kein perfektes Instrument darstellen. Wie die Situation komplett ohne Qualitätszertifizierungen und dem daraus folgenden Marktversagen aussehen würde, wurde oben beschrieben. Eine Begründung für Zertifizierungen aus einer Marktlogik liefert uns das sogenannte Bedarfsdeckungsargument. Zertifikate werden befürwortet, um den Bedarf an bestimmten Produkten decken zu können. Bei diesen kann es sich sowohl um fair gehandelte, ökologisch angebaute oder generell höherwertige Produkte handeln. Dieses Argument ist unseres Erachtens zynisch, da es sich einzig auf die Nachfrage und nicht auf die Produktionsverhältnisse bezieht. Damit wird im Umkehrschluss der – weitaus größere – Marktanteil nicht fair und/oder nicht ökologisch produzierter Güter legitimiert. Problematisch ist dabei außerdem, dass Konsument*innen implizit Aufgaben übernehmen, „in denen eigentlich ordnungspolitische Instrumente notwendig wären”28, wie zum Beispiel eine staatliche Durchsetzung sozialer und ökologischer Standards. Die Praxis zeigt mehr als deutlich, dass Siegel die Durchsetzung von gesetzlichen Mindeststandards nicht ersetzen können.29

Zudem kommt es bei der Abwesenheit von gesetzlichen Standards zur Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten der Produktion. Externalisierung bedeutet, dass der Produktion zurechenbare Kosten nicht im Preis abgebildet sind. Zu diesen Kosten gehören unter anderem die Verschmutzung von Luft und Gewässern oder die Notwendigkeit von Wohlfahrtsleistungen aufgrund von zu geringen Löhnen.30
Kritiker*innen von Siegeln, die aus einer Staatslogik argumentieren, stellen das Instrument hingegen grundlegender infrage. So wird die unzulängliche Reichweite von Siegeln bei der Erreichung von ökologischen und sozialen Zielen betont. Siegel können ohne ordnungspolitische Unterstützung keine „Strukturen der Ausbeutung”31 überwinden und lediglich Teil einer solchen Strategie sein.32 Befürworter*innen von Siegeln schätzen hingegen die Niedrigschwelligkeit des Instruments, die im Vergleich mit ordnungspolitischen Maßnahmen (z.B. staatliche Kontrollen) geringen Kosten und die nicht in den Marktmechanismus als solchen eingreifende Wirkungsweise.33
Eine weitere an Siegeln geäußerte Kritik bemängelt die Fokussierung auf den reinen Kaufakt zur Verbesserung der Nachhaltigkeit der erworbenen Produkte. Es müssten indes weitere den Kaufakt beeinflussende Faktoren – bzw. die gesamten Rahmenbedingungen, in denen dieser getroffen wird – mit berücksichtigt und ein umfassenderes Vorgehen realisiert werden. Dabei sollten unter anderen Einflussgrößen wie Armut und Bildung in den Blick geraten. Denn diese ungleichheitsrelevanten Dimensionen prägen die Konsum- und Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung und üben damit Einfluss auf die Herstellung von Agrarprodukten aus.34 Sie müssten deshalb neben Zertifizierungen und ordnungspolitischen Maßnahmen ebenfalls in den Blick genommen werden.
Ein weiteres interessantes Spannungsfeld ergibt sich hinsichtlich der Frage, inwieweit Siegel politische Regelungen erweitern oder ersetzen. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass schon existierende Siegel gegebenenfalls verbindliche politische Regelungen verhindern können. Es wird vermutet, dass bei bestehenden Regelungen durch den Markt der Staat oftmals zu Unrecht inaktiv bleibe.35 Auf der anderen Seite wird betont, dass Siegel eine weitergehende Möglichkeit der Einflussnahme darstellen, wenn kein politischer Konsens über verbindliche Mindestregelungen wie Abgaben und Gesetze existiert.36
Kritik an Siegeln in ihrer momentanen Ausgestaltung
Zusätzlich zu den bereits erwähnten Kritiken lassen sich Argumente gegen Siegel in ihrer aktuellen Ausgestaltung in folgende drei Bereiche aufteilen: das Kostenargument, den Vorwurf des green- bzw. social-washing und die Unübersichtlichkeit der Siegellandschaft.
Erstens werden im Kostenargument die für Unternehmen entstehenden Kosten für die jeweiligen Qualitätsprüfungen hervorgehoben. In der Praxis gibt es viele Berichte von der Ineffizienz von Zertifizierungen. So konzentriert sich die Kritik besonders auf die unterschiedlichen von den jeweiligen Siegeln abhängigen Anforderungen und Prüfsysteme, die als Kostenfaktor zu Buche schlagen. Da große Betriebe die Prüf- und Siegelkosten auf mehr Umsatz verteilen können, führt dies zu einer Benachteiligung kleiner und kleinster Betriebe.37 Hinzu kommt, dass oft auch eine Verlagerung der kontrollierenden Institutionen von staatlichen Stellen hin zu privatwirtschaftlichen stattfindet.
Zweitens ist mit den Ausdrücken green- bzw. social washing die ungerechtfertigte Darstellung eines Unternehmens als ökologisch und/oder sozial nachhaltig gemeint.38 Siegel werden dabei als Feigenblätter der Unternehmen bezeichnet, welche die wahre Unternehmenspraxis verdecken.39 Auf diese Weise werden Siegeln und Zertifizierungen eine reine Marketingfunktion zugesprochen und den Unternehmen ein ernst gemeinter Veränderungswille abgesprochen. Dieses Argument speist sich unter anderem aus der Historie großer Skandale, in deren Nachwirkungen erst Verbesserungen der sozialen und/oder ökologischen Standards und entsprechende Zertifizierungen durchgesetzt werden. Kritiker*innen betonen, dass Unternehmen nur durch großen öffentlichen Druck zu Verbesserungen ihrer Herstellungsprozesse gebracht werden, jedoch kein intrinsisches Interesse daran besitzen.40 Starke Zweifel werden außerdem daran geäußert, ob sich die Geschäftspraktiken nach Einführung von Zertifizierungen tatsächlich ändern. Der Geschäftsführer von Greenpeace Österreich, Alexander Edit, spricht in manchen Fällen von „zertifizierter Zerstörung”41. Damit kritisiert er die „Gütezeichenindustrie” scharf. In den Fokus der Kritik rücken insbesondere vom Einzelhandel selbst geschaffene Siegel, welche ohne einen echten sozialen und ökologischen Mehrwert verliehen werden.
Zu dieser Art von Greenwashing-Siegeln gehört laut Greenpeace Österreich auch das von uns in Almería angetroffene PRO-PLANET-Siegel von REWE. Dieses wird als „absolut nicht vertrauenswürdig”42 bezeichnet, da es in das „kritisierte System des Gütezeichenmissbrauchs zur Verkaufsförderung”43 einzuordnen sei. Eine andere Meinung in Bezug auf das PRO-PLANET-Siegel vertritt die Internetseite www.label-online.de, welche vom Bundesverband kritischer Verbraucherinnen und Verbraucher betrieben wird. Diese stufen das PRO-PLANET Label durchgängig als besonders empfehlenswert ein, unter anderem hinsichtlich der Tomaten und Paprika aus Spanien.44 Auch in diesem Kontext findet sich wieder der ‒ diesmal nicht namentliche ‒ Verweis auf die Organisation ACOGE Almería. Die Vergabepraxis von label-online.de ist jedoch nicht mit der Bewertung von Greenpeace Österreich zu vergleichen; von 677 eingestuften Siegeln werden 479 (71%) als besonders empfehlenswert, 178 als empfehlenswert und nur 20 als eingeschränkt empfehlenswert beurteilt. Im Gegensatz zur Einordnung von Greenpeace Österreich fehlen Kategorien zu nicht empfehlenswerten und sogar kontraproduktiven Siegeln gänzlich. Nach öffentlich geäußerter Kritik bezüglich der Nachhaltigkeit des PRO-PLANET-Labels erklärte der Unternehmenssprecher von REWE öffentlich: „Innerhalb des landwirtschaftlichen Sektors von Almería ist es nachweislich ein Fortschritt, wenn die gesetzlichen Mindeststandards konsequent umgesetzt und eingehalten werden”.45 Damit wird fast schon zynisch suggeriert, dass Verbraucher*innen bei dem Kauf eines nicht zertifizierten Produktes noch nicht einmal sicher sein können, ob die gesetzlichen Vorgaben eingehalten wurden. Auch während unseres Aufenthalts in der andalusischen Landwirtschaft wurde uns wiederholt von nicht eingehaltenen Gesetzen berichtet, besonders bezogen auf die vollständige Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns (Mehr zu diesem Thema hier auf unserem Blog).
Das andere von uns angetroffene Siegel GLOBALG.A.P wird von Greenpeace Österreich zumindest als bedingt vertrauenswürdig eingestuft. Es garantiert keine bzw. kaum Nachhaltigkeitsaspekte, stellt aber zumindest die Rückverfolgbarkeit von Produkten sicher.46
Diese Fakten aus der Praxis spiegeln die Kritik aus dem Theorieteil oben wider, dass Siegel nicht zur Durchsetzung von gesetzlichen Mindeststandards geeignet sind. Allerdings können Siegeln eine interessante Möglichkeit bieten, aus dem Importland heraus Druck auf die Politik der produzierenden Länder auszuüben, beispielsweise bezüglich der Einhaltung eigener gesetzlicher Vorschriften wie der Zahlung des Mindestlohnes. An dieser Stelle stellt sich weiterführend die Frage, wer in der Produktions- und Wertschöpfungskette Macht auf wen ausübt (Mehr zum Thema hier auf unserem Blog). Diese Möglichkeit der Machtausübung wird in Zukunft weiterhin an Bedeutung gewinnen, da durch internationale Freihandelsabkommen explizite Handelsbeschränkungen und Einfuhrverbote in vielen Fällen kein mögliches Politikinstrument mehr sind.47
Neben diesen beiden Kritikpunkten wird drittens besonders die Unübersichtlichkeit der heutigen Siegellandschaft bemängelt. Selbst informierten Verbraucher*innen fällt es angesichts der kaum noch überschaubaren „Labelflut”48 schwer, den Überblick zu behalten. Eine besondere Rolle spielen dabei unternehmenseigene Siegel, die mit ihrer vorgeblichen Nachhaltigkeit das Siegelchaos verstärken. Daher werden sowohl von umweltpolitischen Organisationen als auch von politischer Seite die Rufe nach einer stärkeren gesetzlichen Regulierung der Gütezeichen-Industrie lauter.49 Gleichzeitig wird an anderer Stelle auch die Notwendigkeit einer Neuregelung bezweifelt.50
Foto: Exkursionsgruppe 1/2018
Fazit
In diesem Artikel haben wir gezeigt, wie wichtig Zertifizierungen und Siegel zur Bereitstellung von Informationen für Verbraucher*innen sind. Nur auf einer guten Informationsgrundlage können Verbraucher*innen die für sie besten Kaufentscheidungen treffen. Zudem entstehen durch die Bereitstellung von Informationen über den Produktionsprozess Anreize für Produzent*innen, ökologisch und sozial nachhaltiger zu produzieren, da diese Änderungen der Produktionsweise durch Siegel beweisbar und damit auch vermarktbar werden.
Gleichzeitig haben wir jedoch auch dargelegt, wie die Praxis der Kontrolle durch Siegel und Zertifizierungen aussieht und wo die Schwächen dieser liegen. Die Kritik an Siegeln als Instrument speist sich hauptsächlich daraus, dass Siegel nur einen sehr begrenzten Einfluss ausüben können. Im Gegensatz zu gesetzlichen Mindeststandards sind sie ein relativ schwaches Instrument und sollten nur ergänzend zu hohen gesetzlichen Mindeststandards eingesetzt werden. Zudem werden bei der Fokussierung auf Siegel leider oft andere Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren auf Produktion und Konsum außer Acht gelassen.
Das Gros der Kritik wird allerdings an den Zertifizierungen in ihrer jetzigen Ausgestaltung laut. Ein Hauptkritikpunkt ist dabei die Unübersichtlichkeit der jetzigen Siegellandschaft, welche durch unternehmenseigene Label noch verstärkt wird. Diese Argumentation leitet auch zum zweiten Hauptkritikpunkt über: Unternehmen verwendeten Siegel lediglich zum social- und greenwashing, um an den tatsächlichen Produktionsbedingungen nichts zu ändern.
Wie kann ein ausgewogenes Fazit unter Einbezug all dieser Argumente lauten?
Die US-amerikanische Ethnologin Margaret Mead sagt: „Es mag zeitweilig notwendig sein, ein geringeres Übel zu akzeptieren, aber man darf niemals ein notwendiges Übel als gut bezeichnen.“51 In dieser Sinn sehen wir auch Siegel und Zertifizierungsverfahren. Neben aller berechtigten Kritik können sie dazu beitragen, in globalen, arbeitsteilig organisierten Produktionsprozessen Qualität, Rückverfolgbarkeit und Nachhaltigkeit sicherzustellen. Ebenso können kontrolliert vergebene Siegel den bewussteren Konsum der Verbraucher*innen fördern (Mehr zu diesem Thema hier auf unserem Blog) und damit Anreize für veränderte Produktionsbedingungen und damit vor allem für verbesserte Arbeitsbedingungen leisten. Allerdings braucht es das Zusammenspiel mit anderen politischen Maßnahmen, ohne die Zertifizierungsverfahren zu leicht von Unternehmen als Feigenblatt für weiterhin ausbeuterische Produktionsverhältnisse genutzt werden können. Es liegt in der Verantwortung jedes*r Einzelnen, Siegeln nicht unhinterfragt zu vertrauen. Sie können beim bewussten Konsumieren helfen, ersetzen jedoch nicht die persönliche Auseinandersetzung mit den Produktionsprozessen unserer täglichen Konsumgüter. So nehmen Siegel eine Art Vermittlungsrolle zwischen Anbieter*in und Nachfrager*in ein und schaffen damit eine gewisse Transparenz für die Konsument*innen. Faire Produktionsbedingungen zu garantieren, geht gleichzeitig weit über die Verantwortung Einzelner hinaus: Es bedarf verstärkt kollektiver und daher politischer Antworten auf die Misere der Landarbeiter*innen in Andalusien und anderswo.
Literatur
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Fußnote
- Besonders zu erwähnen sind hierbei: Greenpeace Österreich (2018) und Greenpeace (2017) sowie die Internetseiten: www.label-online.de, www.utopia.de, www.das-ist-drin.de.
- GLOBALG.A.P (2018a).
- Dannenberg (2012), S. 9-10.
- PRO-PLANET (2018).
- Presseportal (2013).
- GLOBALG.A.P (2018b).
- Jahn, Schramm, Spiller (2003), S. 3.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S.4.
- Jevons (1965), S. 87.
- Cezanne (2014), S. 158.
- Caswell, Mojduszka (1996), S. 1249, eigene Übersetzung aus dem Englischen.
- Teisl, Roe (1998), S. 141.
- Franz (2012), S. 3.
- Duden (2018).
- Der Begriff der potemkinschen Dörfer stammt aus einer – unwahren – Legende über den russischen Gouverneur Grigori Alexandrowitsch Potemkin. Dieser ließ angeblich vor Inspektionsreisen in die von ihm verwaltete Provinz Dörfer aus bemalten Kulissen errichten, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Trugbild, Blendwerk, nur Fassade und nichts dahinter findet dadurch heutzutage Ausdruck durch die Redewendung der potemkinschen Dörfer. Kulke (2011).
- Jahn, Schramm, Spiller (2003), S. 5.
- Cezanne (2014), S. 205.
- Akerlof (1970).
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S.2-3.
- Akerlof (1970), S. 500; Teisl, Roe (1998), S. 141.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S. 3.
- Caswell, Mojduszka (1996), S. 3; Cezanne (2014), S. 205
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S. 2; Albersmeier, Jahn, Spiller (2006), S. 87.
- Teisl, Roe (1998), S. 147-148.
- GLOBALG.A.P. (2018c); Informationen zum Zertifizierungsprozess bei PRO PLANET sind hier zu finden, zuletzt geprüft am 23.01.2019.
- Mehr zur ACOGE Almería ist hier zu finden, zuletzt geprüft am 23.01.2019.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S. 10.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S. 7.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), S. 11.
- Vinz (2005), S. 26.
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- Greenpeace Österreich (2018), S. 13; Behr (2013), S. 272.
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- Egit (2018).
- Greenpeace Österreich (2018), S. 37.
- Greenpeace Österreich (2018), S. 37.
- Label Online (2018).
- Presseportal (2013).
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- Teisl, Roe, Hicks (2002), S. 356.
- Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), Vorwort.
- Egit (2018); Wissenschaftliche Beiräte für Verbraucher- und Ernährungspolitik sowie Agrarpolitik des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2011), Vorwort.
- Herrmann, Schröck (2012), S. 142-143.
- Margaret Mead (1979), Some Personal Views, zitiert nach Greenpeace Österreich (2018), S. 3.